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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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Willenlosigkeit, die Gleichgültigkeit, die Einfachheit und die Freude an der reinen Gegenwart. Camus resümiert Spengler: «Die Griechen haben als glückliches Volk keine Geschichte». [84] Dasselbe wird er immer wieder von den Algeriern behaupten, die er nach Art der deutschen Historienmaler ebenfalls zu bukolischen Griechen erklärt.
    Camus’ Bild des Griechischen übertrifft in seiner Idyllik jedoch beinahe noch das seiner deutschen Erfinder, von Johann Joachim Winckelmann über Friedrich Hölderlin bis zu Oswald Spengler. An diesem von deutschen Philologen ersonnenen Phantom hält Camus noch ein Jahrzehnt später fest, als er in einer Sonderausgabe der
Cahiers du Sud
in seinem Essay «Helenas Exil» die unschuldigen Griechenlandträume der Deutschen unvermindert wiederholt:
    «Für das griechische Denken war stets die Begrenzungsidee vorherrschend. Es hat nichts auf die Spitze getrieben, weder das Heilige noch die Vernunft, weil es nie etwas verleugnete, weder das Heilige noch die Vernunft. Es hat alles einbezogen, den Schatten durch das Licht ins Gleichgewicht bringend. Unser Europa hingegen, das sich berufen fühlt, alles zu erobern, ist die Tochter der Unmäßigkeit. Es leugnet die Schönheit, wie es alles leugnet, was es nicht anbetet. Und es betet, sei es auch auf verschiedene Weise, ein Einziges an: den zukünftigen Sieg der Vernunft. In seinem Wahn versetzt es die ewigen Grenzen, und in diesem Augenblick stürzen sich düstere Erinnyen darauf und zerreißen es. Nemesis wacht, die Göttin des Maßes, nicht der Rache. Alle, die die Grenzen überschreiten, werden von ihr unerbittlich gestraft.» [85]
    Europa, das sich in der Welt zu Tode siegt, muss ein Korrektiv finden: eine Kritik der abendländischen Vernunft. Camus zeigt sich in dieser Frage hoffnungsvoll. Das Korrektiv ist das griechische Erbe. Die Griechen, oder das, wofür Camus sie hält, sind der Beweis, dass es für Europa einen anderen, einen dritten Weg gegeben hätte und noch immer gibt. Anders als Spengler, der von seinem Schwabinger Privatgelehrtensitz auf das Ameisengewimmel der untergehenden Kulturen mit dem unbewegten Herzen eines Insektenforschers herabblickt, ist Camus selbst leidenschaftlich griechisch.
    «Wieder einmal wird sich die Philosophie des Dunkels verflüchtigen über dem strahlend hellen Meer», schreibt er am Ende seines Griechen-Essays. Drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, drei Jahre nach dem Holocaust wird Camus noch immer an die versöhnende Zauberkraft des strahlend hellen Mittelmeers glauben. Er ist sicher: «Wir werden die Griechen wieder erreichen». Und: «Der Sinn der Geschichte von morgen ist anders, als man glaubt».
    Dies ist kein Startschuss, um barfuß in den Unschuldsstand der griechischen Antike zurückzustürmen, sondern ein Aufruf zu einem «griechischen» Leben in der Moderne. Denn das Elend Europas, seiner in Hässlichkeit erstarrten Städte, seiner unbarmherzigen Kollektivideologien, seiner Freudlosigkeit ist, mit griechischen Augen betrachtet, einzig das Ergebnis einer Niederlage des mittelmeerischen Geistes.
    «Die Menschen Europas, den Schatten preisgegeben, haben sich vom strahlenden Fixpunkt abgewandt. Sie vergessen die Gegenwart im Blick auf die Zukunft, den Gewinn der Menschen um des Rausches der Macht willen, das Elend der Vorstädte über durchlichteten Wohnsiedlungen und die tägliche Gerechtigkeit über einem eitlen verheißenen Land. Sie verzweifeln an der Freiheit der Person und träumen von einer befremdenden Freiheit der Gattung; sie lehnen den einsamen Tod ab und nennen Unsterblichkeit eine ungeheure kollektive Agonie. Sie glauben nicht mehr an das, was ist, an die Welt und den lebendigen Menschen; das Geheimnis Europas ist, dass es das Leben nicht mehr liebt. Seine Blinden haben kindisch angenommen, einen einzigen Tag des Lebens zu lieben sei gleichbedeutend mit der Rechtfertigung von Jahrhunderten von Unterdrückung. Deshalb wollten sie die Freude aus der Welt wegwischen und sie auf später verschieben. Die Ungeduld angesichts der Grenzen, die Abweisung ihres doppelten Wesens, die Verzweiflung, Mensch zu sein, warfen sie schließlich in eine unmenschliche Maßlosigkeit. Da sie die echte Größe des Lebens leugneten, mussten sie auf ihre eigene Vortrefflichkeit setzen. Mangels Besserem haben sie sich vergöttlicht, und ihr Elend begann: diese Götter haben blinde Augen». [86]
    Man hat Camus stets als einen Gegner des Totalitarismus gelesen und darüber den Zivilisationskritiker und

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