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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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Satirekanäle eingespeist hat – ist dem Wort «absurd» die ursprüngliche Schärfe Camus’ abhandengekommen.
    Im Roman selbst taucht das Wort «absurd» nur an einer einzigen Stelle auf. Ganz am Schluss – ein Priester besucht den Todeskandidaten zum letzten Mal – hält Meursault eine kurze, merkwürdig bühnenreife Rede. Der Pater, sagt er, lebe wie ein Toter. Er hingegen sei sich seines Lebens und seines Todes sicher. Aus der «Tiefe» seiner Zukunft, so behauptet er, sei während dieses ganzen «absurden Lebens», das er geführt habe, ein «dunkler Atem» zu ihm aufgestiegen, und dieser Atem mache auf seinem Weg alles «gleich», was man ihm in den «unwirklichen Jahren» geboten habe. Zum ersten Mal erklärt sich der Fremde – mit großsprecherischem Pathos. An solchen Stellen meint man zu verstehen, warum Camus eine Angriffsfläche bietet für Kritiker, die ihn, wie Jean-Jacques Brochiers in den siebziger Jahren, einen «Philosophen für die sekundäre Oberstufe» nennen. [125]
    Doch die Erklärungsrhetorik einer solchen Passage kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Absurde bei Camus ein unauflösbares Paradox bleibt, eine Wunde, die sich nie schließen wird, mit der gelebt werden muss, zu rätselhaft, um zum Schulstoff zu taugen. Die beste und dunkelste Erklärung des Absurden stammt von seinem Freund Maurice Blanchot. Der schreibt in einem kurz nach Camus’ Tod veröffentlichten Text mit dem Titel «Der Umweg zur Einfachheit», das Absurde «steht in unserer Sprache da wie etwas Nacktes, das seine Gründe nicht nennt, ein Grenzzeichen, das sich weigert, zu dem von ihm Begrenzten zu gehören: ein unnachgiebiges Wort, das Abschied nimmt und gibt.» [126]
    Wenn Meursault sein Leben absurd nennt, meint er das so, wie Maurice Blanchot es verstanden hat. Sein Leben ist nackt, und es gibt keine Gründe dafür. Einsamer als ihn kann man sich einen Menschen kaum vorstellen. Erst auf den allerletzten Metern, beinahe schon auf dem Weg zum Schafott, mildert Camus das Schneidende und Unnachgiebige dieser absurden Engführung. Ein letztes Mal lässt er seinen Helden einen Blick in den Himmel werfen, der plötzlich wie zur Christnacht «voller Zeichen und Sterne ist». Und als sei das Absurde ein Gott, der sich von Zeit zu Zeit in seiner erhabenen Sinnlosigkeit offenbart, öffnet der Todeskandidat sich «zum ersten Mal» – so die legendäre Formulierung – «der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt».
    Meursault nennt sich in diesem Augenblick einen glücklichen Menschen und denkt an seine Mutter. Er behauptet, er sei mit ihr in Wahrheit die ganze Zeit über in derselben «zärtlichen Gleichgültigkeit» verbunden gewesen, die auch den Himmel und alles Lebendige erfülle. Nicht aus Fühllosigkeit, sondern einzig wegen dieser Überwältigung durch das Unaussprechliche sei er so stumm und kalt gewesen. Nicht die Leere, sondern die Überfülle des Empfindens habe ihn daran gehindert, die zivilisatorischen Standards des Lebens zu beachten. Es ist ein großes Finale. Und ein kleiner Trost, der plötzlich durch das Wörtchen «zärtlich» aus dem kalten Kosmos herabschwebt wie eine Schneeflocke.
    Beinahe unbemerkt bahnt Camus am Romanende einen semantischen Pilgerweg zum letzten Satz des sterbenden Christus, als er den Fremden sagen lässt, er wünsche sich viele Zuschauer bei seiner Hinrichtung, die ihn mit Schreien des Hasses empfangen mögen, damit «alles vollbracht» sei («pour que tout soit consommé»). In einem späteren Vorwort zu einer amerikanischen Universitätsausgabe des Romans wird Camus sogar so weit gehen, zu behaupten: «Ich habe versucht, in meiner Figur den einzigen Christus darzustellen, den wir verdienen». [127]
    Dennoch ist Camus kein Christ und Meursault kein Erlöser vom Absurden. Im Gespräch mit dem Weggefährten Jean-Claude Brisville wird Camus im Jahr  1959 sagen, er habe einen «Sinn für das Heilige», aber er glaube nicht «an das ewige Leben». [128] Die Versöhnlichkeit am Ende des
Fremden
verdankt sich zum einen dem Muttermythos seines Verfassers: Der Muttersohn Camus teilt mit dem Muttersohn Meursault die stumme Verehrung der Mutter, an die nichts Weltliches heranreicht. Zum anderen zeugt sie vom religiösen Atheismus Camus’, dessen Kirche die Literatur und dessen Liturgie das Paradox ist – von der größten Hoffnungslosigkeit soll man nicht erlöst werden, denn sie selbst ist die Hoffnung. Am Horizont des Romans ist eine negative Theologie wirksam, in der

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