Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Leere und Gleichgültigkeit dem Göttlichen den Platz freihalten, den es nicht einnimmt. Samuel Beckett wird die atheistische Transzendenzerwartung des
Fremden
wenige Jahre später in seinem Stück
Warten auf Godot
in die philosophische Groteske fortschreiben.
Für Camus ist
Der Fremde
ein Meilenstein und eine Wegscheide. Es ist der erste Roman eines in Paris angekommenen algerischen Vorstadtautors, der versuchen muss, mit der unüberbrückbaren Zerrissenheit seiner Biographie zu leben. Im
Fremden
hat er zu den zwei, drei Urmotiven seines Lebens zurückgefunden, auf die es ihm ankommt – das Schweigen einer Mutter, die Verlorenheit eines Sohnes, die Gleichgültigkeit, die zu einer Heimat werden kann. Das Buch spricht nicht nur von Verlorenheit und Zerrissenheit, es ist selbst Zeugnis eines heimatlosen Lebens zwischen zwei Weltepochen. Begonnen in der Vorzivilisation der mütterlichen Wohnung in der Rue de Lyon von Algier, abgeschlossen in einem Pariser Hotelzimmer am 1 . Mai 1940 , zehn Tage vor Beginn der Frankreichoffensive der Deutschen. Der Kommentar im Tagebuch lautet lapidar: «L’Étranger ist beendet».
Der Einmarsch
Die Nachrichtenlage bleibt undurchsichtig. Camus schreckt morgens durch das Brummen der Flugzeuge und die Schüsse der Flak aus dem Schlaf. Er ist erschöpft und unsicher, ob sein Buch etwas taugt. Er will zunächst alles in der Schublade liegen lassen und warten. In der Zwischenzeit schreibt er weiter am Essay
Der Mythos des Sisyphos
. Seine «drei Absurden», das Theaterstück
Caligula, Der Fremde
und der Essay, sollen zusammen erscheinen.
Camus ist von Anfang an ein Baumeister seines Werkes. Er denkt in didaktischen Zusammenhängen und architektonischen Räumen und hat drei Etagen entworfen, in denen er drei Existenzweisen in je drei literarischen Sparten nachbuchstabieren will – das Absurde, die Revolte und die Liebe im Spiegel des Romans, des Essays und des Dramas. An seine Freundin Francine Faure schreibt er:
«In den Momenten, in denen ich aufwache, sehe ich manchmal eine ganze Reihe von Werken deutlich vor mir, die ich genau wie dieses [
Der Fremde
] unter Diktat schreiben werde, als herrschte nun Klarheit in meinen Plänen und in dem Universum, das ich beschreiben möchte.» [129]
Camus möchte noch immer Soldat werden, sich noch einmal einer Musterungskommission stellen. Über die Todesgefahr, der er sich damit aussetzt, sagt er in den Worten seines Helden Meursault, sie habe keinerlei Bedeutung. Doch zu einer erneuten Musterung kommt es nicht mehr. Die Ereignisse überschlagen sich.
Der Vormarsch der deutschen Truppen scheint unaufhaltsam zu sein. Nachdem die französischen Verteidigungslinien in den Ardennen am fünften Kriegstag durchbrochen worden sind, gilt der Krieg als verloren. Dennoch versuchen die Zeitungen, Erfolgsmeldungen zu bringen und die militärische Lage zu beschönigen. Die Wahrheit sieht man auf den Straßen: Der «Exodus», die Massenflucht der nordfranzösischen Zivilbevölkerung vor den Deutschen, treibt Millionen von Menschen Richtung Süden. Auch Paris beginnt sich zu leeren. Mit vollbepackten Wagen machen sich lange Kolonnen auf den Marsch ins Ungewisse. Über ihren Köpfen dröhnen die deutschen Kampfflugzeuge. Kinder gehen im Chaos der Flucht verloren, verzweifelte Eltern schreien unaufhörlich deren Namen. Verwaltungen, Läden, Praxen schließen, ein Bleiben erscheint unmöglich. Nordfrankreich wird zu einer Geisterzone, in der nur noch die Spatzen wohnen.
Camus hat das Gefühl, mitzuerleben, wie eine Welt versinkt. «Manchmal stürzen die Kulissen ein», schreibt er in seinem Essay über das Absurde, in dem manche Szene von dem Drama zeugt, das sich in den französischen Städten abspielt. Das Debakel vom Mai und Juni 1940 ist ein Schock, der die ganze Nation befällt. Der Soldat Sartre, der in diesen Tagen in den äußersten nordöstlichen Winkel Frankreichs kommandiert wird, findet dort tote Städte vor. Er hat den Eindruck, in einer Filmszene mitzuspielen, glaubt, all dies sei gar nicht wahr. [130]
Ende Mai verlegt
Paris
-
Soir
die Redaktion nach Nantes. Camus bleibt als einer der Letzten in dem fast menschenleeren Zeitungsgebäude und lebt im Hotel zwischen zwei gepackten Koffern. Der militärischen Niederlage folgt eine Phase tiefer Verunsicherung. André Gide notiert am 30 . Mai in sein Tagebuch: «An gewissen Tagen, oder vielmehr zu gewissen Stunden jedes Tages (ich spreche von der letzten Zeit) fühle ich mich von meinen eigenen
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