Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
oder unbewusst nutzen die Frauen immer das Gefühl für die Ehre und das gegebene Wort, das im Manne so lebendig ist». [139]
Der absurde Mensch –
Mythos des Sisyphos
Die erste Aufgabe, die Francine in ihrer Ehe zufällt, besteht darin, das Manuskript ihres Mannes über das Absurde abzuschreiben. Sie erledigt die Arbeit mit Handschuhen, denn das Zimmer im Hotel Eden lässt sich nicht heizen. Mit klammen Fingern kopiert Francine im Winter 1940 den berühmten Anfang des Essays:
«Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.»
Camus schreibt nun schon, auf dem grauen Manuskriptpapier von
Paris-Soir
, seit über einem Jahr an dem Text, und zwar in Teilen, die er später zusammensetzen wird.
Camus ist kein Philosoph, das hat er immer wieder betont, [140] und dieser Essay ist keine philosophische Arbeit. Wenn im
Mythos des Sisyphos
dennoch Philosophen auftreten – Heidegger, Kierkegaard, Jaspers, Schestow –, werden sie in ein intimes Gespräch verwickelt über die Gleichgültigkeit des Kosmos. In seiner Rezension des
Fremden
und des
Sisyphos
beliebt Sartre bewusst zu übertreiben, wenn er behauptet, der Absolvent der Universität von Algier scheine die «Zitate von Jaspers, Heidegger und Kierkegaard, mit denen er seinen Text kokett ausstattet, nicht immer ganz zu verstehen». [141]
Der Mythos des Sisyphos
erreicht bis heute vor allem junge Leser, weil er direkt und persönlich ist. Camus will aus lebenswarmer Perspektive philosophieren und zieht es vor, von sich selbst zu sprechen, von seiner Einsamkeit, seinem Lebensekel, seiner Lebenslust, und nicht vom Weltgeist, dessen deutsche Vertreter gerade auf den Champs-Élysées paradieren. Er denkt ohne begriffliches Sicherheitsnetz. Seine Denkfiguren sind nicht das «An-Sich» und «Für-Sich», sondern heißen Don Juan, Kirilow, Kafka oder Hamlet. Es ist ein szenisches Denken, bezeugt von Lebensgefühl und Erfahrung, und seine Mittel sind plastisch – Bilder, Figuren und Konstellationen anstelle von Logik und Systemphilosophie. Sein Denken entspringt einer existenziellen Lebensweise; alles, was er nicht aufgrund eigener Erfahrung selbst zu Ende gedacht hat, verkommt ihm zur Ideologie.
Die Tuberkulose hat Camus die Türen zur École normale supérieure verschlossen, dieser Lordsiegelbewahrerin des methodischen Rationalismus, der subtilen Rhetorik und des Bildungskanons der Nation, aus der Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Henri Bergson, Jean Giraudoux, Maurice Merleau-Ponty, Michel Foucault, Jacques Derrida, Pierre Bourdieu, Bernard-Henri Lévy und viele andere hervorgegangen sind. Aus dieser Schwäche macht Camus eine Stärke, indem er die Philosophie literarisiert – nach dem Vorbild Montaignes, Pascals, Nietzsches und des schreibenden Schullehrers Jean Grenier, dessen philosophische Essays ihn so früh geprägt hatten.
Camus macht sich nicht die Mühe, eine Perlenkette scharfsinniger Argumente aufzubieten, um zu beweisen, dass einzig das Absurde der Existenz zugrunde liegt. Für ihn ist das Absurde eine allen begrifflichen Ableitungen vorausgehende Empfindung, die jeden jederzeit grundlos überfallen kann: Man steht auf, man trinkt Kaffee, duscht, liest die Zeitung, fährt zur Arbeit, und plötzlich sieht man sich dabei zu und versteht nicht mehr, warum man tut, was man tut. In der absurden Welt ist jeglicher Zweckrationalismus, der die Kläglichkeit des Augenblicks in der Hoffnung auf eine umso strahlendere Zukunft vergessen lässt – ich arbeite, um reich/beliebt/schön/schlau/erfolgreich zu werden; ich bin fromm, um in den Himmel zu kommen –, bedeutungslos. Der absurde Mensch rechnet nicht mit der Zukunft, sondern mit dem Tod. Erst wenn jeder langweilige und öde Tag betrachtet wird, als sei er der letzte, versteht man seine radikale Unversöhnlichkeit.
Sisyphos in Auschwitz
Das letzte Kapitel des Essays erzählt die antike Geschichte des Sisyphos, den die Götter dazu verurteilt hatten, einen Felsbrocken wieder und wieder den Berg hinaufzurollen, als ein Gleichnis für das Leben, das man nicht in der Hand hat. Sisyphos könnte ein Angestellter sein, der jeden Morgen im selben Pendlerzug sitzt. Er könnte ein Arbeiter am Fließband, er könnte ein Soldat im Schützengraben sein. Er könnte ein kleiner unbedeutender Redaktionssekretär in Paris sein, der nach der Arbeit im Morgengrauen
Weitere Kostenlose Bücher