Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Beethoven-Konzert, das Charles Münch im Konservatorium dirigiert, vom Café de Flore, wo alles wieder «wie in den Glanzzeiten» aussieht. Die Stadt ist voller deutscher Soldaten, überall deutsche Wegweiser und Hakenkreuzfahnen.
Die Frage, wie man sich angesichts der neuen Macht verhalten soll, deren letztliche Niederlage im Dezember 1940 noch nicht abzusehen ist, lässt sich öffentlich nicht debattieren. Der unmittelbare lähmende Schock ist vorüber, was im ersten Moment unannehmbar erschien, ist es nicht mehr ganz und gar.
Jüdische Künstler werden aus den Theatern gejagt: Soll man dort weiterhin arbeiten? Jüdische Journalisten werden aus den Zeitungsredaktionen ausgeschlossen: Darf man hier weiter publizieren? Jüdische Lektoren werden aus den Verlagen geworfen: Soll man dort weiterhin seine Bücher herausbringen? Jüdische Gelehrte werden aus dem Staatsdienst entlassen, verlieren ihre Professuren und Lehraufträge: Darf man sich dennoch als Lehrer im besetzten Frankreich anstellen lassen, darf man auf den frei gewordenen Professorenstühlen Platz nehmen? Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Jean Grenier und viele andere werden genau dies tun. Und Camus?
Camus sitzt Ende Dezember 1940 noch immer in Lyon. Die Aussichten sind auf ganzer Linie dürftig. Kriegsheimkehrer beanspruchen ihre alten Arbeitsplätze beim
Paris
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Soir
, der inzwischen auf vier Seiten geschrumpft ist. Francine sucht eine Wohnung für das Ehepaar. Albert betreibt welthistorische Studien. Im Tagebuch ist viel von den Griechen die Rede, vom Untergang Roms, vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Der Winter ist besonders schneereich. Der
Paris-Soir
kämpft um sein Überleben, die dritte Entlassungswelle Ende Dezember trifft Camus. Zum Jahreswechsel sieht man das Paar noch in Lyon, im Januar 1941 bringt sie das Schiff von Marseille zurück nach Algerien. Zum zweiten Mal in seinem Leben begibt sich Camus in ein durch eine Schwiegermutter bereitetes Nest.
Eine «Hölle» des Wartens in Oran
Fernande Faure ist eine couragierte, berufstätige Witwe, die ihrer Familie, ähnlich wie Camus’ Großmutter Sintès, als unerschütterliche Matriarchin vorsteht. Ihre eigene, bereits verstorbene jüdisch-berberische Mutter spielt im Familiengedächtnis eine wichtige Rolle, ihre drei Töchter arbeiten als Lehrerinnen, eine Tante wohnt nebenan. Fernande gehört zu den wenigen Algerienfranzösinnen, die nicht für Pétain sind. Sie sammelt Geld für entlassene jüdische Lehrer und hört die Radioansprachen des exilierten de Gaulle.
Francines Schwester Christiane überlässt dem Paar ihre Wohnung in der Rue d’Arzew und zieht ins Nachbarhaus zur Mutter. Francine unterrichtet wieder. Camus schreibt an seinem Essay, geht aus, besucht Fußballspiele; hin und wieder fährt er nach Algier zu Yvonne Ducailar, der jungen Philosophiestudentin, deren Bekanntschaft er im Oktober 1939 gemacht hat und der er schon vor seiner Heirat sehnsuchtsvolle Briefe aus Paris schrieb.
Er streift durch die Wohnung der Faures und weiß nicht, womit er die Tage füllen soll. Mit beinahe 28 Jahren ist er wieder mittellos und abhängig von einem Frauenhaushalt, in den er erst vor kurzem mit wenig Überzeugung eingeheiratet hat. Er hasst seine Lage, auch das ist eine Frage der Ehre. Er hasst Oran, diese Stadt, die dem Meer den Rücken kehrt. Im Tagebuch klagt er: «Man irrt in diesen anmutlosen und hässlichen Straßen im Kreis.» [153]
Camus irrt auch im eigenen Leben im Kreis. An Yvonne schreibt er nach sechs Wochen Ehe:
«Hier ersticke ich, bin ich unglücklich, ich habe beschlossen wegzugehen. Ich weiß nicht genau, was ich tun werde, aber ich gehe weg. Ich liebe hier nichts und niemanden, und ich habe es schließlich Francine gesagt.» [154]
Mit Yvonne möchte er eine «Fahrkarte ans Ende der Welt» lösen. Dann beklagt er wieder Beklommenheit, seine unüberwindliche Mattigkeit, sein «lichtloses Herz», seine Antriebslosigkeit.
Die Kleinbürgerlichkeit des Schwiegermutterkäfigs wird ihm unerträglich: «eine Hölle». Das Tagebuch karikiert eine namenlose Frau, «die aussieht, als litte sie an drei Jahre alter Verstopfung», ihr Ideal der Zivilisation bestehe aus «einem Mann mit 1200 Franc im Monat, einer Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad, sonntags Kino und für wochentags eine Inneneinrichtung aus den ‹Galeries Barbès›». [155]
Am 21 . Februar 1941 schließt Camus den
Sisyphos
ab. Damit sind seine «drei Absurden» vollendet. Er fühlt
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