Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
allein durch die schlafende Stadt nach Hause geht. «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen» – der berühmte Schlusssatz des Buches bekräftigt noch einmal die stoische Schicksalsverachtung des lungenkranken Autors. Der Mensch hat die Pflicht zum Glück. Doch ist dies nicht das herkömmliche Glück neuzeitlicher Selbstverwirklichung, sondern ein anderes, ein buddhistisches Glück der Selbstentblößung, das die Grenzen des modernen Ego und seiner endlos komplizierten Ansprüche hinter sich lässt. Der Fatalist weiß, dass man das Glück nicht zwingen kann.
Der Amor Fati des Schlusses passte in die Stimmung der Zwischenkriegszeit, in der das Buch entworfen wurde und zum größten Teil entstanden ist. Als der Essay dann jedoch 1942 , mitten im Zweiten Weltkrieg, im besetzten Paris mit nationalsozialistischer Genehmigung erscheint, ist seine Begeisterung für den «Wein des Absurden» und das «Brot der Gleichgültigkeit» [149] völlig unangebracht. Während Camus 1941 den letzten Satz über das Glück des Sisyphos, der sein absurdes Schicksal glücklich erträgt, zu Papier brachte, wurden in Auschwitz die ersten Vergasungen durchgeführt und das spätere Vernichtungslager Birkenau errichtet. Der Beginn der systematischen Massenvernichtungen der europäischen Juden und das Erscheinen des Essays fallen zusammen.
Dennoch ist der unmögliche Gedanke vom Glück in der größten Hoffnungslosigkeit, von dem der
Mythos des Sisyphos
erzählt, seither nicht mehr verstummt. So wie sich das Erwachen der Gottesliebe und das Erscheinen Gottes nach Simone Weil, der von Camus tief verehrten jüdischen Philosophin, am tiefsten Grund des Unglücks ereignet, so wird selbst Auschwitz – unfassbar und kaum zu verstehen – im Werk des leidenschaftlichen Camus-Lesers Imre Kertész zu einer Quelle der Gnade. Als Sechzehnjähriger wurde der jüdische Schüler nach Auschwitz deportiert. In seinem Lebensbuch
Roman eines Schicksallosen
wird er später mit den Sätzen schließen: «Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den ‹Greueln›: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.» [150] So war das Denken des Paradoxen nicht zuletzt dank Camus in den dunkelsten Momenten des 20 . Jahrhunderts manchmal eine Erlösung.
7. Kapitel Die Ehre
Ort und Zeit:
Marokko 1905 . Lyon 1940 . Oran 1941 . Le Panelier 1942 . Paris 1943 / 44 .
Im Jahr 1905 nahm der zwanzigjährige Lucien Auguste Camus am Marokkokrieg teil. Seine Truppe lag in irgendeinem Winkel des Atlasgebirges. Eines Nachts beim Wachwechsel fand er seinen Kameraden unter einer Hecke mit sonderbar zum Mond hingedrehtem Kopf – jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten, das Geschlechtsteil abgetrennt und dem Toten in den Mund geschoben. Den zweiten Wachposten entdeckte Lucien, auf ähnliche Weise zugerichtet, hundert Meter weiter unter einem Felsen. Er schlug Alarm, die Wachen wurden verdoppelt. Als er im Morgengrauen an der Seite eines Kameraden ins Lager zurückkehrte, sagte er, die so etwas gemacht hatten, seien «keine Menschen». Als daraufhin der andere einwandte, man sei schließlich in fremdes Land eingedrungen, der Gegner verteidige sich eben mit allen Mitteln, beharrte Lucien Camus: «Ein Mensch macht so etwas nicht, ein Mensch hält sich in Zaum».
Camus erzählt diese Geschichte in seinem nachgelassenen autobiographischen Roman
Der erste Mensch
; «ein Mensch hält sich in Zaum», «non, un homme ça s’empêche», das war der Ehrenkodex, der ihm vom Vater – weitergegeben über einen alten Lehrer, der den Vater gekannt hatte – überliefert wurde.
Die Ehre bleibt Camus zeitlebens sehr wichtig. Sie ist eine Art Urmaß, das er aus der Kindheit in der Armut Algiers in die moderne Welt mitbringt. Camus-Forscher haben das Wort in seinem Theaterstück
Der Belagerungszustand
zweiundzwanzigmal, mehrfach in seinen Leitartikeln für den
Combat
und dreimal allein im Vorwort zur
Algerischen Chronik
gezählt. Die Ehre galt es, immer und unbedingt zu verteidigen: im französischen Widerstand, im spanischen Bürgerkrieg oder – im kleineren Maßstab auf einem für Camus jedoch überaus wichtigen Kampfplatz – in harschen Repliken auf die Kritik der Kollegen. Sie gehörte in
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