Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
unmittelbare Nachbarschaft zu dem, was Camus seinen «spanischen Stolz» nannte, eine Eigenschaft, die er auf seine spanischen Wurzeln mütterlicherseits zurückführte.
Jean Grenier erinnerte sich, dass sein Schüler ihm 1941 einmal schrieb, dass «die Ehre und die Treue ihren Wert auch in einer absurden Welt bewahren» [151] , Grenier vergaß auch den Nachmittag nie, als er seinen Schüler in der Rue de Lyon in Belcourt aufsuchte und Albert die Arme hinter dem Rücken verschränkte und die Hand, die der Lehrer ihm bot, ausschlug, weil er sich für die Armut, in der er lebte, vor seinem Lehrer so schämte.
Die Polarnacht von Paris
Im Dezember 1940 steht die Ehre einer stolzen Kultur auf dem Spiel. In Paris haben die Nachtlokale, die Cabarets, Clubs, Musikhallen und Bordelle wieder geöffnet. Man spielt Jazz und trinkt Whiskey. Die Pariser sind zurückgekehrt. In den Varietés sind die ersten Reihen mit Herren in grauen Wehrmachtsuniformen besetzt. Die deutschen Besatzer geben sich entspannt. Die Comédie-Française spielt
Was ihr wollt
in einer Inszenierung ihres Intendanten Jacques Copeau. Man sitzt bis spät in die Nacht zusammen im Deux Magots, im Dôme, in den Trois Mousquetaires und läuft durch die Kälte nach Hause, weil die Métro nach Mitternacht nicht mehr fährt.
Leutnant Gerhard Heller, ein junger Romanist aus Potsdam, hat als Zensurbeauftragter des Reichspropagandaministeriums in Paris Posten bezogen und wacht über die Buchproduktion in der besetzten Zone. Auch alle Texte, die auf Pariser Bühnen vorgetragen werden, alle Cabaret-Programme und Satiren, müssen von der Propagandastaffel genehmigt werden. Der deutsche Botschafter im besetzten Frankreich, Otto Abetz, und der Militärbefehlshaber in Frankreich, General Otto von Stülpnagel, besuchen Ballettaufführungen in der Oper. Allein im Juli nehmen einhundert Pariser Kinos den Betrieb wieder auf und zeigen ausschließlich französische oder deutsche Filme.
Der alte Glanz ist oberflächlich wiederhergestellt, doch er kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kulturdarbietungen vor den deutschen Wehrmachtssoldaten Unterhaltungsdienste für ein Besatzungsregime sind, das sich zivilisiert gibt, seine wahren Absichten jedoch keineswegs verbirgt. Jüdische Schauspieler, Regisseure und Musiker werden aus dem Kulturleben entfernt. Elf jüdische Verlagshäuser werden enteignet und geschlossen, siebzig weitere von der deutschen Militärpolizei überfallen und geplündert. 2200 Tonnen Bücher werden verbrannt. Die verbliebenen Verlage verpflichten sich zur «Selbstzensur» und unterzeichnen ein «Abkommen», in dem sie zusichern, keine Bücher von Juden, Freimaurern oder deutschfeindlichen Autoren zu verlegen. Im September wird die nach Otto Abetz benannte «Liste Otto» veröffentlicht: 1060 Titel, die unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen sind, darunter Bücher von André Malraux, Arthur Koestler, Louis Aragon, Julien Benda, Sigmund Freud, André Gide, Paul Éluard, Jean Paulhan und sogar Gustave Flaubert. Die Bücher werden in einer riesigen Garage in der Avenue de la Grande-Armée gestapelt und später makuliert. Es ist «die Polarnacht des Geistes», von der Camus im
Sisyphos
schreibt.
Gaston Gallimard, der Gründer des gleichnamigen Verlages, in dem
Der Fremde
und der
Mythos des Sisyphos
erscheinen werden, flüchtet zunächst in die freie Zone, kehrt jedoch im Oktober 1940 zurück – und kollaboriert mit der deutschen Propagandastaffel. Leutnant Heller geht in der Rue Sébastien-Bottin, dem Sitz des Verlags, bald aus und ein. Bücher von jüdischen Autoren oder über jüdische Autoren werden aus dem Programm genommen, die jüdischen Lektoren entlassen. [152]
Während der Weihnachtstage 1940 herrscht in Paris herrliches kaltes und trockenes Wetter. André Malraux ist im Gefangenenlager. André Gide liest in Grasse Goethes
Leiden des jungen Werthers
. Marguerite Duras bezieht ihre Wohnung in der Rue Saint-Benoît und diskutiert mit ihrem Mann Robert Antelme und Freunden aus der Widerstandsgruppe des Musée de l’Homme, wie man gegen die Besatzer kämpfen könnte. Simone de Beauvoir sehnt sich nach ihrem «süßen kleinen» Sartre, der gemeinsam mit 25 000 anderen französischen Soldaten in einem Gefangenenlager in Trier interniert und in der Künstlerbaracke des Lagers bester Dinge ist, eifrig schreibt, Vorträge hält oder über Malraux, Heidegger und Rilke diskutiert. Sie schwärmt von Paris, vom Quartier Latin, vom
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