Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
sich befreit. Das Manuskript des
Fremden
hat er Pascal Pia anvertraut, der es André Malraux und Jean Paulhan empfiehlt. Er wartet.
Der Frühling kommt – schon im März schalmeit Camus wie eh und je von der Jungmädchenblüte an den algerischen Stränden, vom Honigduft der gelben Rosen und von den Blumen auf den Höhen von Algier. Er unternimmt ausgiebige Wanderungen bis zur Erschöpfung. Im April 1941 meldet das Tagebuch: « II . Reihe. Die Welt der Tragödie und der Geist der Revolte […] Pest oder Abenteuer (Roman).» [156] Er hat sich mit seinem Leben als Schwiegersohn abgefunden. Offenbar auch mit seiner Ehefrau, zumindest für den Augenblick.
Im Haus der Faures entstehen die ersten Entwürfe zur
Pest
. Aus Algier ordert Camus Fachliteratur über die Seuche. Er beginnt auch zu arbeiten. Eine jüdische Lehrerfamilie, die eine Privatschule gegründet hat, bietet ihm eine Stelle an; er erteilt den jüdischen Kindern, die man aus den staatlichen Schulen geworfen hat, Französischunterricht und trainiert auch die Fußballmannschaft.
Im Sommer verbringt er eine unvergessliche Woche in einem Zelt am Meer – mit Yvonne. Die Tagebuchpassage über diese Reise gehört zu den hymnischsten seines ganzen Werkes. Der ausgenüchterte Ton Meursaults ist wie weggeblasen. Alles wird noch einmal bejubelt: die Schönheit der gebräunten Körper auf den Dünen, die Unschuld ihrer Spiele und ihre Nacktheit im Licht der Sonne, das ultramarinblaue Meer, die blutrote Straße, die Nächte der Umarmungen und eines Glücks ohne Maß unter einem Sternenregen. Und er schließt: «So eine Vereinigung ist unvergesslich. Schreiben können: ich bin acht Tage lang glücklich gewesen.» [157] Familie Faure ist nicht amüsiert.
Camus lenkt ein. Wie noch so oft. Der folgende Eintrag klingt wieder ganz nach Regen, nach Paris, nach Etagenwohnung und Eheleben: «Man muss zahlen und sich mit dem gemeinen menschlichen Leiden besudeln». Und wenig später: «Um es noch einmal zu sagen: das Wichtigste ist, dass man sich beherrschen lernt.»
Camus ist zerrissen zwischen den Gegensätzen seines Lebens und möchte alles zugleich. Norden und Süden, französische Kultur und mediterrane Lebensart, Askese und Ausschweifung. Wenn der Wagen, in dem er am 4 . Januar 1960 sitzen wird, auf dem Weg zwischen dem südfranzösischen Lourmarin und der französischen Hauptstadt an einem Baum zerschellt, stirbt er buchstäblich auf halber Strecke zwischen den beiden Polen seines Lebens, zwischen denen er sich nie entscheiden konnte.
Im Laufe des Frühjahrs und Sommers kommen Briefe aus Frankreich. Jean Grenier hat den
Fremden
gelesen und weiß nicht, was er davon halten soll. «Sehr geglückt», schreibt er und schränkt sofort ein: «vor allem der zweite Teil, trotz des Einflusses von Kafka, der mich stört». Den ersten Teil findet er nur noch «interessant», einzelne Charaktere erscheinen ihm gelungen, beispielsweise der Alte mit seinem räudigen Hund, auch Maria findet er sehr berührend, aber im Ganzen seien die Sätze doch zu kurz und die Aufmerksamkeit des Lesers werde zu sehr strapaziert. Der Lehrer stört sich an der Modernität des Romans, dessen Größe er schlicht verkennt. Camus zeigt sich verunsichert. Im nächsten Brief zieht Grenier alles zurück: Nein, der Roman sei exzellent.
Im Sommer folgt der
Sisyphos
. Diesmal nimmt Grenier sich kaum die Zeit zur Lektüre: «Auf den ersten Blick hat mir das Manuskript gut gefallen. Sie sagen Dinge, die ich gesagt haben könnte, wenn ich dem Weg, der sich meinem Geist geboten hat, bis zum Ende gefolgt wäre.» [158] Vier Wochen später ein weiterer Brief mit Korrekturvorschlägen und Anmerkungen zu einzelnen Manuskriptseiten, in einem vagen, studienratshaften Ton: «Was Sie da über Kafka schreiben, ist tiefsinnig und inspiriert».
Nichtsdestoweniger erbietet er sich, auch dieses Manuskript an Jean Paulhan zu schicken, der zwar die Herausgeberschaft der
N.R.F.
abgegeben hat, doch noch immer im Lektoratskomitee bei Gallimard mitwirkt – neben Marcel Arland, Brice Parain und Ramon Fernandez, der wiederum in seinem Haus einen Salon führt, in dem Leutnant Heller, der Direktor des Deutschen Instituts Karl Epting und Drieu La Rochelle, aber auch Fernandez’ Wohnungsnachbarin Marguerite Duras verkehren.
Pascal Pia, der in Lyon geblieben war und dort schon wieder rastlos versucht, eine unabhängige literarische Zeitung zu gründen, die der kollaborierenden
N.R.F.
den Rang ablaufen soll, ist ein Mann von
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