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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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selbst in einer sinnlosen Welt das entfesselte Denken, das sich nicht um seine Folgen schert, niemals auf die Wirklichkeit ausdehnen dürfe. Caligula durfte das auf dem Theater. Doch Literatur ist Spiel, und die Idee von der Umwertung aller menschlichen Werte war nur ein Spiel im Spiel, gespielt von Dichtern und Philosophen. Nie hätte man damit Ernst machen dürfen – wie die deutschen Nationalsozialisten, die eine avantgardistische Philosophie missbrauchten. Aus philosophischem dürfe niemals politischer Nihilismus werden. Seitdem Camus vor dem Nietzscheanismus der Nationalsozialisten graut, zweifelt er auch an dem eigenen. Auch seine Leitbegriffe stammen aus der Zwischenkriegszeit, auch er muss sich philosophisch neu erfinden.
    «Ich will Ihnen sagen, wie es möglich ist, dass wir so ähnlich waren und heute Feinde sind, wie ich an Ihrer Seite hätte stehen können und warum jetzt alles aus ist zwischen uns. Lange Zeit haben wir gemeinsam geglaubt, diese Welt habe keinen tieferen Sinn und wir seien um etwas betrogen. In gewisser Hinsicht glaube ich es heute noch. Aber ich habe andere Schlüsse daraus gezogen als jene, von denen Sie mir damals sprachen und denen Sie seit so vielen Jahren geschichtliche Wirklichkeit zu verleihen suchen. Ich sage mir heute, dass ich Ihnen in Ihrem Tun recht geben müsste, wenn ich mich wirklich von Ihren Gedankengängen hätte überzeugen lassen. Und das ist so schwerwiegend, dass ich mich damit befassen muss, im Herzen dieser Sommernacht, die so trächtig ist an Verheißungen für uns und Drohungen für Sie.» [177]
    Die
Briefe
werden in Teilen 1943 und 1944 in den Untergrundzeitungen
La Revue Libre
und
Cahiers de Libération
sowie 1945 in
Libertés
veröffentlicht. Die Deutschen, so sieht es Camus in den Wochen und Monaten vor der Befreiung, hatten sich an ihrer absurden Weltsicht berauscht. Er selbst sei von diesem Weg, der in einen Machtrausch führte, rechtzeitig abgebogen: «Ich dagegen lehnte diese Verzweiflung und diese gequälte Welt ab und begehrte nur, dass die Menschen ihre Solidarität wiederfinden, um den Kampf gegen ihr empörendes Schicksal aufzunehmen» (Vierter Brief).
    Der Nihilismus Nietzsches und dessen nächster Verwandter, der philosophische Amoralismus, hätten außerhalb der Kunst und des Denkens keinerlei Berechtigung mehr. Jetzt, im Frühjahr  1944 , seien die schlichten Anstands- und Ehrbegriffe des Bürgers gefragt. Für Camus ist eine Philosophie, die sich über die einfache menschliche Ehre – «Ein Mensch macht so etwas nicht» – hinwegsetzt, nichts mehr wert. Beinahe unbemerkt führt Camus’ Brief an einen deutschen Freund auch zu einer Revision seiner Philosophie des Absurden, insofern sie sich ab sofort nur noch auf dem eingezäunten philosophischen Spielplatz für unverantwortliches Denken austoben darf.
    Sein Widerstand erwacht spät. Zu einem Zeitpunkt, als allen klar ist, dass Deutschland den Krieg verloren hat, erklärt Camus es zu seiner «Pflicht», den Nationalsozialisten den «Kampf» anzusagen. «Ich jedoch habe mich für die Gerechtigkeit entschieden, um der Erde treu zu bleiben», schreibt er dem feindlichen Freund, ein Nietzsche-Wort («Bleibet der Erde treu») zitierend. Dem deutschen Philosophen bleibt er nach dieser Abrechnung mit dem deutschen Nietzscheanismus gleichermaßen treu. Nietzsches Schriften werden ihn bis in seine letzten Lebensstunden begleiten.

Das Missverständnis
    Vier Wochen vor der Befreiung von Paris wird
Das Missverständnis
in der besetzten Stadt uraufgeführt. Leutnant Heller erhebt keine Einwände. Es ist das erste Mal, dass Camus seine Figuren auf der Bühne sieht, seine Worte von richtigen Schauspielern gesprochen hört. In der Rolle der Martha glänzt Maria Casarès. Francine Camus fehlt bei der Premiere. Sie ist noch immer in Algerien, wird erst nach der Befreiung zu ihrem Mann nach Paris reisen – und dann nie wieder weggehen.
    [Bild vergrößern]
    Maria Casarès ( 1922 – 1996 )
    Das Stück fällt bei Kritik und Publikum durch. Sein Thema – Mutter und Schwester töten und berauben den eigenen Sohn und Bruder, ohne ihn zu erkennen, um sich ein besseres Leben in der Sonne und am Meer leisten zu können; sie bringen sich um, als sich das «Missverständnis» aufklärt – variiert noch einmal das Mordmotiv, das Camus nicht loslässt. Der Sohn kehrt von den Küsten Afrikas heim ins verregnete Böhmen, und seine Mutter, die dort einem Gasthaus vorsteht, behandelt ihn wie einen Kunden: «mit

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