Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
des Vaters auf dem Soldatenfriedhof von Saint-Brieuc, wo Camus’ Vater auch begraben ist. Da ist der Sohn vierzig Jahre alt und stellt fest, dass er schon elf Jahre länger lebt als der Tote. Camus hat seinen Vater vermisst. Und auch der kleine Cormery findet es unerträglich, dass der Vater so spurlos verschwunden ist und niemand in der Familie sich mehr an ihn erinnert: «Die verlorene Zeit wird nur bei den Reichen wiedergefunden». [297]
Dieses Unrecht will Camus beheben. Nicht wie Proust, von dem er im
Revolte
-Essay geschrieben hat, er wolle eine geschlossene, unersetzliche Welt erschaffen, die nur ihm gehören und seinen Sieg bezeichnen würde über die Flut der Dinge und den Tod. Das ist die Perspektive des Besitzenden. Der Nomade Camus ist auf der Suche nach der leeren und ereignislosen Zeit der Besitzlosen. Er will den Tod und die Flüchtigkeit nicht besiegen, sondern feiern. Im Tagebuch hat er vor Jahren einmal notiert: «Wie in der Wüste sterben lernen!» [298]
Alle folgenden Kapitel sind der Bericht des vierzigjährigen Jacques, der auf dem Seeweg nach Hause zurückkehrt und sich an seine Jugend erinnert, an die Faustkämpfe, die Fußballspiele, die Arbeit in der Böttcherei und im Hafen, an den Geruch von Sägespänen und faulenden Abfällen, an die staubbedeckten Feigenbäume vor dem Haus, an die brütende Hitze und das gleißende Licht, das immer über allem lag.
Der Erzähler kommentiert fast nichts, und wenn er es doch tut, dann ungeniert, mit herzensschlichtem Pathos. So sagt er von seinem Vater: «Es gab ein Geheimnis um diesen Mann, ein Geheimnis, das er hatte ergründen wollen. Aber letzten Endes war es nur das Geheimnis der Armut, die den Menschen den Namen und die Vergangenheit raubt». [299] Es ist das erste Buch Camus’, dem jeder Hintersinn fehlt, eigentlich auch jede Handlung, jede Intrige, jede Spannung. Im Tagebuch heißt es über den
Ersten Menschen
, «er wollte nicht haben, er wollte nicht besitzen, er wollte sein». «Die stumpfsinnigen und schwarzen Jahre», die Camus in Paris verbracht haben will, vergingen im mechanischen Takt der Uhren – für Camus auch so eine deutsche Erfindung. In seinem letzten Roman reiht sich alles wieder in minimalistischer afrikanischer Eintönigkeit aneinander – Sand, Wind, Wüste.
Im letzten Teil sollte die Zeitgeschichte ins Spiel kommen. «Jacques erklärt seiner Mutter die arabische Frage, die kreolische Zivilisation, das Schicksal des Abendlandes», heißt es in den Arbeitsnotizen. Doch es ist kein Zufall, dass die Historie bis dahin in dem Roman keine Rolle spielt. Camus hält es für einen unverzeihlichen Fehler, die Gegenwart aus der Vergangenheit und im Hinblick auf die Zukunft zu berechnen – und dabei zu verpassen. Sein berühmter Satz über die Geschichte, die nicht alles sei – «Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist» [300] –, entstammte dem heißen, wortlosen Universum der Kindheit, das er hier wieder in sein Recht setzen will gegen die Geschichte und ihre maßlosen Ansprüche an das Individuum. Jahrzehntelang ist ihm diese Parteinahme für das elementare Leben und gegen die Macht der Geschichte zum Vorwurf gemacht worden – obwohl doch niemand so genau weiß, ob es wirklich die Geschichte ist, in der man das Glück findet.
Camus kam aus einer Welt, die am Rand der Geschichte lag. Was immer hier geschah, die Geschichte des 20 . Jahrhunderts wurde woanders, in den Zentren Europas, entschieden. Nach seinem rasanten Aufstieg von der geschichtslosen Welt, in der die Dinge beim höchsten Sonnenstand keinen Schatten warfen, in die abendländische Welt der Historie und der endlosen Schattierungen hat er sich lange nicht umgedreht, um noch einmal zurückzusehen. Doch dann hat er im Vorwort zu
Licht und Schatten
geschrieben, «dass ein Menschenwerk nichts anderes ist als ein langes Unterwegssein, um auf dem Umweg über die Kunst die zwei oder drei einfachen großen Bilder wiederzufinden, denen sich das Herz ein erstes Mal erschlossen hat.» [301] Darin war beschlossen, dass er zu den kunstlosen Motiven seiner Anfänge zurückkehren musste. Und das ist das ganze Geheimnis der Einfachheit: Gerade weil Camus unterhalb des Radars der großen Geschichte mit ihren vereinnahmenden Ideologien gelebt und all die Apparate und Spielzeuge der bürgerlichen Existenz entbehrt hat, ist er frei geblieben und hat seine Sinne
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