Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
André Malraux. Die Kritik gibt sich respektvoll gelangweilt. Camus’ Begeisterung für das Theater war immer größer als seine dramaturgische Begabung. Er bemüht sich nun um Subventionen für ein eigenes Theater, sein «Nouveau Théâtre» soll griechische Tragödien, elisabethanisches Theater, französische Klassik und spanische Stücke des 16 . und 17 . Jahrhunderts aufführen. Der Antrag nimmt seinen Weg über die Schreibtische im Kulturministerium. Als er endlich bewilligt wird, ist der Antragsteller nicht mehr am Leben.
Im März 1959 reist Camus zum letzten Mal für sechs Tage nach Algerien. Sein Bruder Lucien hatte telegraphiert, ihre Mutter musste sich einer Operation unterziehen. Camus nimmt das nächste Flugzeug, das in Paris um 3 Uhr in der Nacht startet. Um 7 Uhr landet er in Algier.
Gerührt sitzt er an ihrem Bett, betrachtet ihre knotigen Hände auf der Decke, ihren Kamm, ihr Taschentuch auf dem Nachttisch. In der Bibliothek von Algier macht er Recherchen zur Kolonialgeschichte für seinen Roman. Der geplante Besuch in seinem Geburtsort Annaba ( 585 Kilometer von Algier entfernt) kommt nicht zustande. Der Vielbeschäftigte hat Fernsehtermine in Paris. Er verabschiedet sich zum letzten Mal von seiner Mutter. Am 29 . März ist er zurück in Paris bei seinen drei Geliebten, absolviert in gewohnter Manier und mit wohleinstudierten Posen die Dreharbeiten für Pierre Cardinals Porträt zum Thema «Warum ich Theater mache» («weil die Theaterbühne einer der Orte der Welt ist, wo ich glücklich bin») und schwärmt noch ein bisschen im Tagebuch: «In meinem Leben alles vernichten, was nicht diese Armut ist. Sich zugrunde richten». [295]
Es wird Ende April, bis das Haus im Lubéron seinen Besitzer wieder sieht. Am 28 . April 1959 kommt Camus bei grauem Wetter erschöpft in Lourmarin an. Im Garten blühen die Rosen und der Rosmarin. Unterbrochen von Reisen nach Arles, Toulon und Marseille mit Mi (das Tagebuch verzeichnet «unablässige Trunkenheit»), ist er dankbar «für dieses Land, seine Einsamkeit, seine Schönheit» [296] . Doch lange hält er es nicht aus. Gemessen an der Bedeutung im Lebensplan, fällt die Nutzung des Traumhauses überraschend mager aus. Ende Mai sieht man Camus schon wieder bei einer Podiumsdiskussion in Paris anlässlich einer Matinee-Vorstellung der
Besessenen
. Im Juli gastiert er mit den
Besessenen
am La Fenice in Venedig, erst Anfang August verbringt er wieder einige Tage in Gesellschaft seiner jungen Geliebten in Lourmarin (das Tagebuch meldet: «ungestüme Dankbarkeit für Mi»), bevor er nach Paris zurückkehrt, um die Wiederaufnahme der
Besessenen
vorzubereiten. Im Oktober begleitet er seine Schauspieler auf einer Tournee nach Reims. Während dieser Betriebsamkeit fährt Camus fort, das Pariser Leben bei jeder sich bietenden Gelegenheit als «Hölle» zu bezeichnen, der er nicht schnell genug entfliehen könne. Häufig beklagt er in diesen Wochen, sein wahres Werk noch gar nicht begonnen zu haben. Allenfalls ein Viertel seines vor zwanzig Jahren konzipierten Arbeitsprogramms habe er bisher verwirklicht.
Von Mitte November bis Anfang Januar 1960 verbringt er zum ersten und letzten Mal in seinem Leben sechs Wochen allein in Lourmarin. Seit Jahren hat er diese Dreifaltigkeit herbeigesehnt – ein Mann, ein Haus, ein Buch.
Der erste Mensch
Das Buch ist ein einfaches Zeugnis, ein Lebensbericht ohne Überhöhung, ohne jeden Manierismus, nicht einmal den der Reduktion. Es spricht auf einfachste Weise nur von einfachen Dingen, von den «Seinen», seinem Vater, seiner Mutter, seinem Lehrer, dem Haus, der Straße, der Krankheit, der Schule. Der Held heißt nicht Albert Camus, sondern Jacques Cormery, doch man darf bei diesem Buch getrost vergessen, was man über die Unterscheidung von Autor und Figur gelernt hat, denn für dieses Buch ist das alles nicht gültig. Camus und Cormery sind ein und derselbe. Und
Der erste Mensch
ist eine Autobiographie, die in kahlem Stil über ein kahles Leben berichtet, in dem wie in der Wüste oder wie am ersten Tag der Schöpfung noch nichts mit Bedeutung versehen war. Der ursprüngliche Titel des Buches lautete «Adam», das erste Kapitel heißt «Die Suche nach dem Vater», was ein wenig klingt wie «die Suche nach der verlorenen Zeit». Es beschreibt die Geburt des kleinen Jacques wie ein Krippenspiel, in dem die Sätze in kurzen harten Intervallen in der Stille zerplatzen. Im zweiten Kapitel steht der erwachsene Sohn am Grab
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