Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Leere, in die Wüste. «In der Wüste», weiß Camus, «endet die Einsamkeit». [285]
Die Ehebrecherin
Bis zu seinem 40 . Lebensjahr ist Camus noch nie in der Wüste gewesen. Er wuchs am Meer auf, und die Wüste begann irgendwo weit hinter seinem Rücken, im Großen Süden jenseits des Atlasgebirges. Seine Romane spielen in den algerischen Küstenstädten, in Algier und Oran. Die Wüste war für ihn vor allem, was das christliche Abendland aus ihr gemacht hatte – ein vom Wind verwehter Sandhaufen erbaulicher Begriffe, eine Metapher aus der biblischen Seelenkunde. Er folgt hier der christlichen Ikonographie sehr genau, welche die Wüste abwechselnd zu einem Ort der Versuchung, der Entsagung und Erleuchtung oder Verlassenheit und Weltverlorenheit erklärt hat. In seinem Essayband
Hochzeit des Lichts
(
Noces
) gibt es einen «Wüste» überschriebenen Prosatext, in dem Camus ausgerechnet die toskanische Landschaft eine «grandiose Wüste im Herzen» und ein «Evangelium aus Stein, Himmel und Wasser» [286] nennt und die franziskanischen Mönche, die er im römisch-katholischen Hoheitsgebiet besucht, zu Wüstenheiligen erklärt.
Die überwältigende Leere der Sahara kennt er da noch nicht. Als er 1953 im Großen Süden Algeriens unterwegs ist und die Oasen Laghouat, Gardaïa und Batna besucht, erlebt er die Wüste zum ersten Mal. Gleich nach seiner Rückkehr schreibt er die Erzählung «Die Ehebrecherin» (und nimmt sie 1957 in den Band
Das Exil und das Reich
auf). Eine Frau fährt an der Seite ihres Mannes im Bus durch die Steinwüste Algeriens. Ihr Ziel ist eine Oase, Palmen kommen ins Bild, Minarette, Burnusse, harte Gesichter, wie aus Knochen geschnitzt und mit Leder überzogen – «nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatte». [287]
Zum ersten Mal wagt Camus sich erzählerisch aus den kolonialen Hochburgen am Mittelmeer heraus, dringt ins Landesinnere Algeriens vor. In der richtigen Wüste gibt es nur zugige Herbergen und das graue Totenreich der Steine, zwischen denen die Nomaden in ihren schwarzen Zelten leben – «eine Handvoll Menschen, die nichts besaßen, aber niemandem hörig waren». [288] Das Paar logiert in einem Hotel in der Oase, der Ehemann geht seinen Geschäften nach. In der Nacht zieht es die Frau allein in die Wüste. Die Sterne fallen zu Tausenden auf die Steine herab, der Himmel über ihr wird von einer eigentümlich «kreisenden Bewegung» mitgezogen, und die Wüstenbesucherin wird seltsam übermannt, ein «unbewegliches Ziehen verband sich mit ihrem tiefinnersten Wesen». Sie liegt rücklings auf der Erde, und das «Wasser der Nacht» steigt in ihr auf und dringt bis in ihren «von Stöhnen übergehenden Mund», während der Himmel sich über sie breitet wie ein sanfter Liebhaber – der einzige Sexualakt im gesamten Œuvre Camus’ vollzieht sich zwischen einer verheirateten Frau und dem Himmel über der Wüste. Anschließend legt «die Ehebrecherin» sich wieder zu ihrem Mann und weint über das Leben, für das sie sich «zu dick, zu groß und zu weiß» fühlt. Die Wüste gehört den Nomaden, nicht den französischen Ehefrauen.
Das letzte Jahr
Im Oktober 1958 verbringt Camus neun Tage in seinem Haus in Lourmarin. Man kann ihn sich vorstellen, wie er nur im Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, durchs Dorf schlendert, seinen Stammplatz in der Dorfkneipe einnimmt, dem Mann an der Tankstelle zunickt, den Esel füttert, in der Nacht die Sterne beobachtet. Er ist in eine Luxusausgabe seiner Kindheit zurückgekehrt. Das Haus im Lubéron ist das einfache Haus seiner Kindheit – die nackten Böden, die weißen Kalkwände, die kargen spanischen Möbel, die algerischen Drucke an den Wänden. Und es ist die Prachtimmobilie eines weltbekannten Schriftstellers, Nobelpreisträgers, Millionärs – die drei Stockwerke, der Innenhof, der Springbrunnen, die Privatgarage, die Olivenbäume, die große Terrasse, der weit gereiste Esel. Die Abende ähneln ein wenig denen in der Rue de Lyon in Belcourt, das stille Draußensitzen, Gespräche mit den Nachbarn als einzige Unterhaltung. Aber es ist nicht mehr der unschuldige Gassenjunge, der mit den Leuten spricht, sondern ein vielbeschäftigter Autor, der in der Einfachheit für ein paar Tage oder Wochen zu Besuch ist.
Im November 1958 stürzt sich Camus in eine aufreibende Theaterarbeit. Er inszeniert seine Bearbeitung der
Besessenen
von Dostojewski im Pariser Theater Antoine. Zur Generalprobe am 30 . Januar 1959 erscheint Kulturminister
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