Canale Mortale (German Edition)
engen Gassen wieder, als
Antonia anmerkte: »Florian bewundert ihren Schnurrbart!«
Kurz vor Mitternacht schrieb Antonia noch eine E-Mail an Aram
Singer. Rita hatte ihr geraten, mit offenen Karten zu spielen. Falls Singer
etwas mit den Drohbriefen zu tun hatte, würde er sich, so Ritas Prognose,
ohnehin nicht melden.
»Möglicherweise lässt er die Briefe dann sogar bleiben. Oder er
meldet sich doch und versucht, sich aus der Affäre zu ziehen. Das ist deine
Sache, das rauszukriegen!«
Antonia ging den Text an Singer mehrfach durch und versuchte sich
vorzustellen, wie er auf das Schreiben reagieren würde.
Sehr geehrter Herr Singer,
ich bin Gast
im Palazzo Falieri in Venedig. Auf Wunsch meiner Gastgeberin, Octavia
Bayer-Falieri, der Tochter des Conte, untersuche ich den Umstand, dass seit
einiger Zeit anonyme Briefe an ihren Vater gerichtet werden. Ich habe gehört,
dass Sie meinen Gastgeber in der letzten Zeit zweimal besucht haben. Ich würde
Sie aus gegebenem Anlass gerne nach dem Grund Ihrer Besuche fragen.
Über eine
rasche Antwort würde ich mich freuen,
Antonia Babe
Aram Singer antwortete auf diese E-Mail
schon nach einer halben Stunde. Er sei am Flughafen von New York und fliege
gleich geschäftlich nach Israel. Er müsse jetzt sein Gerät ausschalten, weil
das Flugzeug bald starte. Er wolle ihr aber aus Israel antworten. Antonia
lehnte sich zufrieden zurück. Wenigstens an dieser Stelle würde sie ein Stück
weiterkommen.
9
In der Zeitungsredaktion des »Gazzettino« herrschte Hochbetrieb.
An den Schreibtischen versanken die Mitarbeiter in einem Meer von Papier, aus
dem nur die Computerbildschirme wie Schiffe auf hoher See herausragten. Viele
der Journalisten telefonierten, sodass es schwer war, jemanden zu finden, den
man ansprechen konnte. Im Flur trafen Jana und Antonia auf einen älteren Mann,
der sie an das Archiv der Zeitung verwies.
»Unser Archivar kann Ihnen in dieser Frage weiterhelfen. Er hat auch
den Artikel zu den ›Sieben Märtyrern‹ geschrieben.«
Der Mann manövrierte sie zwischen Papierstapeln und überlaufenden
Papierkörben zu einem kleineren Raum, durchschritt von dort aus mehrere andere
Räume und machte halt an einer Tür. Auf einem Pappschild mit vergilbter Schrift
war zu lesen, dass sich hinter der Tür das Archiv befand und Anfragen nur
einzeln bearbeitet werden könnten.
Der Archivar, ein hagerer, etwa sechzigjähriger Mann mit einer
runden Brille, saß an seinem Arbeitsplatz, einem schmalen Tisch zwischen zwei
Fotokopierern. Er schaute scheu auf, als sie den kleinen Raum betraten. Jana
stellte sich vor und gab an, dass Antonia sich im Rahmen ihres Studiums für die
Geschichte der deutschen Okkupation Italiens interessiere und nun etwas über
die Sette Martiri wissen wolle. Der Archivar nickte ernst, stand auf und zog
aus einem Regal einen Ordner hervor. Dann, ohne ihn zu öffnen, fing er an, über
das Geschehen im Stadtteil Castello zu sprechen. Er sprach so schnell und
leise, dass Antonia nur Bruchstücke verstand und Jana bat, für sie zu
übersetzen.
»Im August 1944 lag am damaligen Riva dell’Impero ein Schiff der
deutschen Marine. Nach einer Feier, auf der man viel getrunken hatte, wurde in
der Nacht das Verschwinden eines Wachpostens bekannt. Der deutsche Kommandant
des Schiffes ordnete unverzüglich eine Vergeltungsmaßnahme an. Man holte sieben
politische Gefangene aus dem Gefängnis bei Santa Maria Maggiore.«
Antonia unterbrach sie. »Frag ihn bitte, was diese Gefangenen für
Leute waren.«
Jana übersetzte, und der Archivar erläuterte: »Es waren junge Leute,
die man als Partisanen denunziert und gefangen genommen hatte, die meisten von
ihnen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren. Nur zwei in der Gruppe,
Andrea Conti und Alfredo Vivian, waren älter. Vivian war Partisanenführer und
Venezianer. Er war der Einzige der sieben, der schon zum Tode verurteilt war,
weil er einen deutschen Matrosen an der Piazzale Roma getötet hatte. Die
anderen unterstanden der Polizei und der Nationalgarde. Aber das kümmerte die
Deutschen nicht. Sie haben sie trotzdem mitgenommen.«
»Was genau geschah mit ihnen?«
»Sie wurden dort am Riva dell’Impero hingerichtet, vor den Augen
einer eigens herbeigeschafften Menschenmenge. Später hat man das Ufer nach
ihnen benannt, und heute gibt es dort eine Gedenktafel mit den Namen der sieben
Opfer.«
Antonia zögerte einen Augenblick. Dann fragte sie den Archivar, ob
er das Geschehen näher beschreiben könne. Der
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