Canale Mortale (German Edition)
nach
allen Seiten weitere Bekannte und forderte von einem servilen Oberkellner »den
besten Tisch«. Antonia kam neben ihr zu sitzen, und während die anderen die
Karte studierten, neigte sich die alte Dame zu ihr herüber und posaunte ihr
sämtliche Traviata-Aufführungen, die sie im La-Fenice-Theater je gesehen hatte,
mit Jahreszahl und Regisseur ins Ohr. Erst als das Essen serviert wurde,
verstummte sie und aß, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, konzentriert ihren
ersten Gang, eine Portion Penne all’Arrabiata.
Antonia hatte inzwischen Octavia das Foto mit dem Paar aus der Loge
gezeigt.
»Ich glaube, ich habe eben Ihren Schwager in Begleitung dieser Leute
gesehen. Kennen Sie die beiden? Die Dame trägt ein sehr auffälliges Diadem.«
Auch Janas Mutter kannte weder den eleganten Herrn noch die blonde
Dame mit dem aufwendigen Kopfputz. Als Antonia das Handy wieder einstecken
wollte, griff plötzlich Tante Alba danach und schaute, während sie ein Stück
Weißbrot kaute, auf das Display. Sie kniff die Augen zusammen, nickte und
schaufelte weiter Gabeln voll Pasta in sich hinein. Als sie ihren Teller mit
einem weiteren Stück Weißbrot gewischt und den letzten Happen vertilgt hatte,
betupfte sie sich den Mund und seufzte: »Das nackte Bühnenbild hat mich hungrig
gemacht!«
Dann öffnete sie ihre Tasche und holte ihre Brille heraus. »Zeigen
Sie mir noch mal das Foto auf Ihrem Telefon, ich glaube, das ist Lauras Diadem …«
Alba hielt Antonias Handy hoch.
»Natürlich. Das hat sie immer in der Oper getragen. Ich weiß noch
genau, dass wir sie immer damit aufgezogen haben, ob sie es schon zur
Uraufführung von ›La Traviata‹ getragen habe.«
Dann klärte sie die anderen auf, dass Laura, eine alte Freundin, im
letzten Jahr verstorben sei. Die blonde Frau sei wahrscheinlich eine Verwandte,
die das Diamantdiadem mit den Federn geerbt habe. Ihr Begleiter sei der Neffe,
der jetzt im Haus der Verstorbenen lebe.
Ein Kellner brachte den anderen den zweiten Gang, den Alba
ausgeschlagen hatte. Stattdessen bat sie um ihr Dessert.
»Meinst du mit Laura die Principessa?«, fragte Octavia.
»Ach, die!« Jana lachte. »Die wandelnde Mumie …«
Tante Alba schmunzelte. »So alt war Laura nun auch wieder nicht.
Höchstens zweiundachtzig, als sie starb. Wir haben uns seinerzeit immer bei
Peggy zum Tee getroffen.«
Antonia wandte sich an Octavia. »Ist die Principessa die Dame, von
der Sie mir erzählt haben? Die Strenge, bei der Flavia angestellt war?«
Tante Alba beugte sich neugierig vor. Dann hob sie demonstrativ eine
Hand zu ihrem Ohr und sah Antonia durchdringend an.
»Sie müssen ein bisschen lauter sprechen, Kindchen, ich bekomme
sonst Ihre Frage nicht mit!«
Antonia wiederholte ihre Frage, worauf Alba sich noch einmal mit der
Serviette den Mund wischte und in die Runde dröhnte: »Wer ist Flavia?«
Man klärte sie auf. Inzwischen stellte der Kellner mit einer
Verbeugung das Dessert vor die alte Dame, und Antonia musste sich wieder
gedulden. Tante Alba löffelte zunächst in aller Ruhe ihre Cassata und bestellte
quer durchs Lokal einen doppelten Espresso, bevor sie sich zurücklehnte und
sagte: »Das Personal wechselte bei Laura sehr häufig. Sie war ein wenig unberechenbar,
wissen Sie. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer zuletzt bei ihr gearbeitet hat.
Wenn es für Sie jedoch von Belang ist, kann ich Lauras Neffen morgen anrufen
und mich erkundigen.«
Jana nickte heftig. »Ja, Tante Alba, und frag bitte, ob Onkel Guido
bei ihnen in der Loge war. Antonia meint, sie hätte ihn gesehen. Das kann ich
mir aber nicht vorstellen. Er ging doch früher nicht ins Theater …«
Auch Octavia schüttelte den Kopf. »Guido in der Oper? Das wäre mir
neu!«
Alba bekam in diesem Augenblick einen Niesanfall und musste sich
mehrfach geräuschvoll die Nase putzen. »Octavia, meine Liebe, wenn du so weit
bist, wäre ich sehr froh, wenn du das Taxiboot bestellen würdest. Ich brauche
meinen Schönheitsschlaf.«
Octavia brach wie gewünscht bald mit der alten Tante auf, während
die drei jüngeren Frauen es vorzogen, ihre Mahlzeit in Ruhe zu beenden und zu
Fuß durch die warme Nacht nach Hause zu gehen.
»Deine Tante ist vielleicht eine Nummer!«, sagte Rita bewundernd.
Jana nickte. »Ich hoffe, sie war nicht zu laut.« Dann setzte sie
hinzu: »Tante Alba hat Klasse. Es heißt, sie habe vor ihrer Heirat mit einem
Schweizer Fabrikanten jede Menge Liebhaber in Venedig gehabt …«
Das Gekicher der drei Frauen hallte in den
Weitere Kostenlose Bücher