Canale Mortale (German Edition)
Mann putzte umständlich seine
Brille, öffnete den Ordner und zeigte ihnen einen Zeitungsausschnitt.
»Den Artikel habe ich geschrieben, nachdem ich mich mit den Quellen
vertraut gemacht hatte.«
Jana überflog den Text und bat um eine Kopie. Der alte Mann nickte,
öffnete einen der beiden Fotokopierer und legte den Artikel auf die Glasplatte.
»Das Ganze geschah im Morgengrauen des 3. August 1944. Deutsche
Soldaten drangen in die Häuser der Via Garibaldi ein und zwangen etwa
fünfhundert Personen – Männer wie Frauen – sich draußen, entlang der Straße,
mit erhobenen Händen, Gesicht gegen die Wand, aufzureihen und so auf die
Hinrichtung der sieben Männer zu warten. Die Exekution sollte den Bewohnern der
Via Garibaldi eine Lektion erteilen. Das Castello galt seit je als
antifaschistische Zone, im Gegensatz übrigens zum Lido.«
Man hörte eine Zeit lang nur das Geräusch des Fotokopierers. Dann
hob der Archivar wieder an.
»Um sechs Uhr morgens wurden die sieben gebracht. Der
Gefängniskaplan hatte sie begleitet, ihnen die Beichte abgenommen und ihnen die
Kommunion gereicht. Vivian lehnte sie als Einziger ab, er sei ›nicht
bekennend‹. Die sieben gefesselten Männer mussten sich zwischen zwei Pfählen
aufstellen, die man an der Riva errichtet hatte, und nachdem ein deutscher
Offizier das Todesurteil verlesen hatte, eröffneten vierundzwanzig Soldaten das
Feuer auf sie, vor den Augen der verängstigten Menschen. Kurz vor der Exekution
rief Alfredo Vivian: ›Es lebe das freie Italien!‹.«
Der alte Mann unterbrach sich, nahm die Kopien aus dem Ausgabefach
und reichte sie Jana.
»Und was geschah dann?«, fragte Jana.
»Nicht viel. Nachdem man die Toten weggeschafft hatte, zwangen die
Deutschen ein paar Kinder, mit Eimer und Besen das Pflaster der Promenade von
den Blutlachen zu säubern. Die Menschen gingen nach Hause. Alle waren wie
gelähmt.«
Antonia musste sich gegen ein Regal lehnen. Es fiel ihr schwer,
einen klaren Gedanken zu fassen. Der Archivar setzte seine Brille wieder auf,
und Antonia hatte den Eindruck, er spreche jetzt nur zu ihr. Seine Gläser
funkelten, sodass sie seine Augen dahinter nicht erkennen konnte.
»Ein paar Tage später fand man die Leiche des deutschen Matrosen in
der Lagune. Er zeigte keinerlei Verletzungen. Er war offenbar betrunken ins
Wasser gefallen und dann ertrunken.«
Antonias Kehle war vollkommen ausgetrocknet. Sie musste sich
räuspern, bevor sie fragte: »Hat man die Dinge denn nach dem Krieg untersucht?«
Sie dachte dabei an den Kommandanten des Marineschiffes, der die Erschießung
angeordnet hatte.
Der Archivar hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Era
stata rappresaglia di guerra, es war Krieg … Lediglich drei junge Frauen, deren
Denunziation zur Gefangennahme von dreien der ›Märtyrer‹ geführt hatte, wurden
1947 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Eine rein symbolische Strafe, ebenso
wie der Prozess gegen den schwarzen Brigadisten, der Conti festgenommen hatte.
Sie fielen alle unter die Amnestie. Aber wie gesagt, seitdem heißt das Ufer
Riva dei Sette Martiri. Die Namen der Ermordeten stehen auf der Tafel, die man
an einer Hauswand am Ufer befestigt hat. Vor den Giardini liegt übrigens eine
Skulptur im Wasser, die eine gefallene Partisanin darstellen soll und den
vielen Frauen gewidmet ist, die im Veneto aufseiten des Widerstands gekämpft haben.«
Antonia erinnerte sich an die Statue, die sie dort gesehen hatte.
Sie notierte sich die Namen der Hingerichteten. Der Archivar schob die Kopien
in eine Plastikhülle und überreichte sie Jana. Dann setzte er sich zurück an
seinen Tisch und nahm seine Arbeit wieder auf. Die beiden Frauen dankten ihm
und verließen den kleinen Raum.
Der Redaktionsraum wirkte jetzt verwaist, alle waren zum Mittagessen
ausgegangen. Nur ein junger Mann saß noch da und starrte unbewegt auf seinen
Bildschirm. Antonia schwieg. Einen Augenblick lang hatte sie die Phantasie, die
Journalisten seien vor ihr aus dem Gebäude geflohen. Sie dachte an die vielen
deutschen Touristen, die in all den Jahren nach dem Krieg an diesem Ufer
entlangspaziert waren, ohne zu ahnen, dass die Nazis ihre Barbarei auch in
diese wunderbare Stadt getragen hatten.
Ob man den Namen des deutschen Kommandanten noch herausbekommen
konnte? Und welchen Zusammenhang hatte das historische Geschehen mit der
Familie Falieri? Sie hatte plötzlich das Gefühl, an Dinge zu rühren, die zu
groß für sie waren. Wenn heute tatsächlich jemand
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