Canale Mortale (German Edition)
habe. Er hat mir diese Kopie
gezeigt, auf der eine Venus abgebildet war; sie hatte aber nichts mit dem Bild
zu tun, das ich auf den Fotografien meiner Schwiegereltern gesehen habe. Ich
musste daher unverrichteter Dinge wieder nach Baltimore zurückkehren. Der
Zustand meiner Tochter hatte sich inzwischen verschlechtert. Wir haben das
Interesse an dem Bild vollends verloren, als unsere Tochter schließlich starb.
Das Bild bringt sie uns auch nicht wieder zurück.
Ich hoffe, ich
konnte Ihnen helfen.
Beste Grüße,
Aram Singer
10
Sie erzählte Florian nichts von dem Vorfall am Kanal, aus
Sorge, dass er sie dann von ihrem weiteren Vorgehen abhielte, aber auch weil
sie sich nicht sicher war, ob sie sich die Verfolgung nur eingebildet hatte.
Stattdessen rief sie Jana an.
»Ich würde gerne diese Tizian-Kopie sehen, von der dein Großvater
gesprochen hat. Kannst du ihn bitten, sie uns zu zeigen?«
Der Conte war einverstanden und ließ die beiden am Nachmittag nach
oben in seine Sammlung kommen. Jana klopfte, wartete, bis er mit »Entrate«
antwortete, und öffnete dann vorsichtig die Tür. Ohne sie anzusehen, winkte der
Conte sie heran. Er saß in dem Ledersessel mit dem Drehmechanismus, der es ihm
möglich machte, sich in alle Richtungen zu bewegen und alle Bilder rundum
anzusehen.
»Guardate! An diesem Bild kann man etwas über das Verhältnis von
Original und Fälschung lernen. Es ist die Kopie eines Tizian-Gemäldes, die
technisch gesehen fast besser ist als das Original.«
Von seinem Sessel aus schaltete er mit einer Fernbedienung mehrere
Deckenspots ein, die sich auf das Gemälde vor ihm richteten. Das Licht hob die
weichen, runden Konturen einer halbnackten jungen Frau im Pelz hervor.
»Eine Venus. Das Original hängt im Ca’ d’Oro. Die Kopie
unterscheidet sich von ihm durch die Kraft der Farben. Dieses Bild ist eine
Fälschung. Es hat keine Patina, obwohl es schon fast hundert Jahre alt ist.«
»Dann ist dieses Bild also nicht besonders wertvoll?«
»Nur ein paar tausend Euro. Singer hat mir mehr geboten. Dabei würde
er auf jeder Auktion weniger bekommen. Aber er wollte partout dieses Bild, und
darüber haben wir uns gestritten. Ich wollte es nicht hergeben. Dazu liebe ich
es zu sehr!«
Antonia hörte zu, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Wenn Singer
die Wahrheit gesagt hatte, dann waren die Behauptungen des Conte gelogen.
Singer hatte geschrieben, dass der Conte ihm gerade dieses Venus-Bild geben wollte.
Ich brauche unbedingt das Foto, von dem Singer gesprochen hat, ging es ihr
durch den Kopf.
Der Conte blickte weiterhin starr auf das Bild der Venus, als sei er
durch unsichtbare Fäden mit dem Bild verbunden. Leise sprach er wie zu sich
selbst: »Was würde ich dafür geben, das Original zu besitzen …«
Antonia erschrak, als sie die Gier in den Augen des alten Mannes
sah. Seine Hände gruben sich tief in die Lehnen seines Drehsessels, sodass die
Adern dunkel unter der weißen Haut hervortraten.
»Aber Sie können das Original doch im Ca’ d’Oro besuchen und
ansehen«, wandte sie ein.
Der Conte entspannte sich wieder, und das Leuchten kehrte in seine
Augen zurück. »Das ist nicht dasselbe, Signorina Babe. All die vielen Augen,
die das Bild jeden Tag abtasten und besitzen, die vielen Besucher, die vor ihm
stehen, sie nehmen ihm seine Aura. Ich will es nur für mich allein. Aber so ist
das Leben. Wir begehren das, was wir nicht haben können.«
»Buddha lehrt uns«, dozierte Jana, »dass wir uns vom Begehren
befreien müssen. Ich meditiere täglich und versuche, alle meine Wünsche zu
überwinden.«
Der Conte sah Jana zärtlich an. »Auch das ist ein Begehren,
Principessa.«
Von unten hörte man den Gong, den Giovanna schlug, bevor sie das
Essen auftrug.
»Diana, sag bitte deiner Mutter, dass ich heute hier oben bleibe.
Ich habe keinen Appetit.« Dann lehnte sich der alte Mann in den Sessel zurück
und schloss die Augen.
Antonia war schon vor der Tür, als sie noch einmal umkehrte. »Jana,
bitte komm noch einmal zurück. Dein Großvater muss mir noch eine Frage
beantworten.«
Als sie die Sammlung erneut betraten, stand der Conte dicht vor dem
Bild mit der Venus. Seine linke Hand ruhte auf der Leinwand, seine Wange lehnte
am Busen der Venus, und er schien an der Oberfläche des Bildes zu riechen. Dann
sah Antonia, wie seine rechte Hand zwischen Rahmen und Wand herabglitt. Es
machte den Eindruck, als wolle er das Bildnis der Venus streicheln.
»Großpapa, meine Freundin hat noch eine
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