Canale Mortale (German Edition)
anmachen?«
»Oder er musste mal«, mutmaßte Rita. »Du kannst doch ein bisschen
Judo. Wahrscheinlich hättest du den locker ins Wasser geworfen.«
»Ich hatte plötzlich panische Angst. Und wenn er nun eine Waffe bei
sich gehabt hätte, ein Messer zum Beispiel, dann hätte mir das bisschen Judo
auch nichts genützt.«
»Dann ist es das Beste, wenn du hier abends nicht weiter alleine
herumläufst. Vielleicht hat jemand spitzgekriegt, dass du das mit den Briefen
weißt. Vielleicht will man dir Angst machen. Sei also von jetzt an ein bisschen
vorsichtiger«, sagte Rita pragmatisch.
Während der Rückfahrt von Murano nach Venedig schien sie angestrengt
nachzudenken. Dann, kurz bevor der Vaporetto anlegte, fuhr sie aus ihren
Grübeleien hoch, sah Antonia an und sagte noch einmal: »Du musst Singer
unbedingt fragen, was auf dem Bild seiner Schwiegereltern drauf ist.« Dann
drückte sie Antonia einen Teil ihrer Einkäufe in die Hand. »Ich muss noch mal
zum Markusplatz, ich hab da gestern was Schönes in ‘nem Schmuckladen gesehen.
Bis später, Schätzchen. Und pass auf dich auf!«
Antonia hatte zu Hause gerade ihre Schuhe abgestreift und die
Espressokanne aufgesetzt, als jemand heftig an die Tür der Gästewohnung
klopfte. Draußen stand Octavia, völlig aufgelöst. Während sie auf den
Küchenstuhl sank, berichtete sie, dass in ihrer Abwesenheit ein weiterer
Drohbrief gekommen war. Diesmal hatte Flavia den Brief, den jemand an der
Haustür abgegeben hatte, dem Conte gebracht. Dieses neue Schreiben enthielt nur
die mit großen Ausrufezeichen versehenen Worte »Gemeiner Räuber« und »Dieb«, und
es war nicht mit »7 M «, sondern mit »Die
sieben Märtyrer« unterzeichnet. Ihr Vater hatte den Brief geöffnet und
daraufhin einen Schwächeanfall erlitten.
Als Octavia und Tante Alba von ihren Einkäufen zurückgekommen waren,
hatten sie ihn zusammengesunken, den Brief in der Hand, in seinem
Schreibtischsessel gefunden. Flavia hatte sie an der Haustür mit den Worten
»Dem Conte geht es nicht gut« empfangen. Octavia hatte vergeblich versucht, die
Hausärztin zu erreichen.
»Ich habe die Ambulanz angerufen. Sie müssen jeden Augenblick
kommen.«
Von Weitem hörte man tatsächlich das aufgeregte Hupen der Ambulanz
auf dem Giudecca-Kanal. Einige Minuten später bog das Boot in den Kanal vor dem
Palazzo ein, und der Conte wurde in einem Tragestuhl nach unten gebracht.
Octavia und Tante Alba stiegen ebenfalls ins Boot, um ihn ins Ospedale zu
begleiten.
Antonia und Jana lehnten im Fenster des Piano Nobile und sahen von
oben zu, wie sich das Boot in Bewegung setzte. Jana war sichtlich mitgenommen;
ihr Gesicht war blass, und ihre Hände zitterten.
Antonia hatte sich den neuen Brief angesehen und bat Jana, mit ihr
zu Flavia zu gehen, der sie dringend ein paar Fragen stellen wollte. Sie fanden
sie auf der Altana beim Abhängen der Wäsche. Flavia wirkte angespannter als
sonst. Sie grüßte nur knapp, nahm den Korb auf und wollte den Dachbalkon
verlassen. Aber Antonia versperrte ihr den Weg und fragte sie, wie der Bote
ausgesehen habe, der den letzten Brief abgegeben hatte, und ob es derselbe
gewesen sei, von dem sie die früheren Briefe in Empfang genommen habe. Flavia
sah die beiden erstaunt an und antwortete ausweichend. Es seien immer andere
Jungen gewesen, die diese unfrankierten Briefe gebracht hätten.
»Sie klingeln. Und wenn ich aufmache, drücken sie mir etwas in die
Hand und verschwinden ganz schnell wieder.«
Antonia ließ jedoch nicht locker. Irgendetwas müsse sie doch an dem
letzten Jungen wahrgenommen haben, die Haarfarbe, die Farbe seines T-Shirts,
die Körpergröße. Aber Flavia blieb dabei, sie habe keine genaue Erinnerung. Der
Junge sei etwa so groß wie Ugo gewesen und habe dunkles Haar gehabt. Sie müsse
sich jetzt um die Einkäufe kümmern, die Signora habe ihr eine lange Liste
gegeben.
Antonia ließ sie vorbei. Während Jana wieder an ihre Studien
zurückging, tat Antonia so, als wolle sie auch ein paar Besorgungen machen. In
Wirklichkeit hatte sie vor, Flavia zu beobachten.
Sie wartete im Treppenhaus, bis Flavia mit einer Einkaufstasche das
Haus verließ. Dann ging auch sie leise nach unten, schloss behutsam die Haustür
und folgte ihr.
Flavia nahm, wie sie erwartet hatte, nicht den Weg zum Supermarkt,
sondern ging in Richtung Accademia-Brücke. Antonia blieb immer ein gutes Stück
hinter ihr und achtete darauf, dass sie sich notfalls rasch in eine Nische oder
einen Hauseingang zurückziehen
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