Canale Mortale (German Edition)
des Conte. Sie hatte unterwegs
fast die ganze Zeit geschwiegen, und als sie an der Pforte des Ospedale den
Namen ihres Großvaters nannte, hörte Antonia, wie ihre Stimme zitterte. Der
Pförtner wurde, als er den Namen Falieri hörte, sichtlich nervös. Er rief über
das Haustelefon nach einem Arzt und bat die beiden zu warten. Dabei machte er
ein sorgenvolles Gesicht. Es dauere eine Weile, bis der Arzt kommen könne, er
sei in einer Untersuchung. Antonia und Jana wanderten die langen Flure entlang
in einen Innenhof und dann weiter in einen nächsten Hof. Antonia bemerkte, dass
im hinteren Teil des Ospedale ein Hof von einer Ziegelsteinmauer begrenzt
wurde, in deren Mitte eine Tür eingelassen war. Besucher kamen und gingen, und
sie fragte Jana, wohin die Pforte führe.
»Das ist der Ausgang zur Fondamenta Nuove. Viele Besucher kommen ja
von dieser Seite. Sie liegt direkt der Vaporetto-Haltestelle gegenüber, von der
die Boote nach Murano und zu den übrigen Inseln gehen.«
»Ich wusste gar nicht, dass das Krankenhaus auch von hierher
zugänglich ist.«
»Doch, ja. Wenn man von dort kommt, kann man gleich durch diese Tür
auf das Gelände und muss nicht erst um das ganze Gebäude herum. So kann man
Patienten oder Verstorbene direkt zu den Booten bringen, ohne den belebten
Vorplatz zu benutzen.«
Sie gingen zum Eingang zurück, aber der Arzt war immer noch nicht zu
sprechen. Der Pförtner sah sie wieder mit seltsam ängstlichem Blick an und
fragte dann noch einmal über das Haustelefon nach. In diesem Augenblick kam der
Arzt mit zwei Carabinieri um die Ecke. Die beiden Uniformierten gingen weiter,
während der Mann im weißen Kittel Antonia und Jana in ein Büro der Verwaltung
bat. Dann sah er Jana mit ernstem Blick an.
»Es ist etwas passiert, was wir uns überhaupt nicht erklären können.
Die Leiche Ihres Großvaters ist verschwunden …«
Jana starrte ihn verständnislos an. Dann weiteten sich ihre Augen
vor Schreck, und sie sank auf einen Stuhl. Der Arzt wiederholte noch einmal
seinen letzten Satz, als könnte er ihn selbst nicht glauben. Antonia fragte
ihn, wann man das Verschwinden bemerkt habe.
»Der Exitus des Conte trat gestern in den frühen Morgenstunden ein.
Man hat ihn dann hier unten in einen Raum verbracht, in dem die Verstorbenen
bleiben, bis sie gewaschen werden. Gestern Abend, gegen neun Uhr, kam diese
Dame, die ihn noch einmal sehen wollte. Und als heute Morgen die beiden
Schwestern kamen, um den Leichnam zu waschen, war er verschwunden …«
Jana, die wie gelähmt dasaß, hob den Kopf. »Wer hat meinen Großvater
sehen wollen? Meine Mutter und meine Tante wollten erst heute Nachmittag zu
ihm. Wer war denn hier?«
Der Arzt zog ein Handy aus der Tasche und führte ein kurzes
Telefonat.
»An der Pforte sagt man mir, eine Signora Massato sei hier gewesen.
Sie sei die Schwester des Conte. Jedenfalls hat die Dame den Namen Maria
Massato angegeben.«
Jana sah Antonia an. »Ich verstehe gar nichts mehr. Eine Verwandte
von Guido?«
Der Arzt erläuterte indessen, dass man bereits die Polizei
eingeschaltet habe. Die beiden Männer, die eben bei ihm gewesen waren, wollten
jemanden zum Palazzo Falieri schicken, um Octavia vom Verschwinden des
Leichnams in Kenntnis zu setzen.
Draußen vor dem Ospedale sackte Jana in sich zusammen.
»Ich muss unbedingt Guido anrufen. Wer soll denn das sein, Maria
Massato? Seine Mutter kann es nicht sein, die heißt Gina, das weiß ich.«
Antonia steuerte einen der Tische an, die draußen vor der Konditorei
»Rosa Salva« standen. Die Sonne schien warm. Zu Füßen des Denkmals von
Bartolomeo Colleoni gurrten Tauben. Der Heerführer schaute herrisch über sie
hinweg. Es war wieder ein schöner Tag mit leichtem Wind, und er stand in
scharfem Kontrast zu der düsteren Nachricht vom Verschwinden des toten Conte.
Antonia bestellte einen Brandy für Jana, während diese mehrfach
vergeblich versuchte, Guido zu erreichen.
»Wo steckt er denn bloß? Sonst hat er das Handy immer
eingeschaltet.«
»Wir sollten so schnell wie möglich deine Mutter informieren, bevor
sie es von der Polizei erfährt«, schlug Antonia vor.
Als sie im Palazzo ankamen, saßen Octavia und Tante Alba im
Garten und berieten sich über den Text der Todesanzeigen, die sie per Post
verschicken wollten. Die Carabinieri waren noch nicht da gewesen. Jana bat ihre
Mutter unter einem Vorwand nach drinnen, um Tante Alba zu schonen.
Octavia hatte kaum Zeit, den Schrecken zu verarbeiten, den die
Nachricht
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