Canale Mussolini
waren nur die Wohnhäuser fertig, über die Gegend verstreut, dazu die Landgemeinden, die borghi , mit den notwendigen Einrichtungen, und im Hintergrund die Baustellen der neu zu errichtenden Stadt Littoria. Das war ein gigantisches Unternehmen, lassen Sie sich das gesagt sein. Bis 1926 gab es keine verlässliche Karte von der Gegend – keine präzise Landkarte –, und es gab Stellen, an die noch nie irgendjemand hingelangt war. Nur Sumpf, Morast und Fließsand. Wer da hineinfiel, der krepierte und fertig. Onkel Benassi, derjenige, der später meine Tante Santapace Peruzzi heiratete, erzählte, während sie die untere Sumpfregion rodeten und er mit einer Fowler-Zugmaschine an den Rändern des Kanals zugange war – wir nannten diese Maschinen auch Favola, das waren riesige Maschinen mit Dampfantrieb, die mittels einer Seilwinde alles und jedes fortschleppen konnten –, sei die Fowler irgendwann von den Planken gerutscht, die eigens über den Schlamm gelegt worden waren, damit sie nicht einsank. Zuerst habe sie sich langsam zur Seite geneigt, dann sei sie ganz eingesunken, und man bekam sie nicht mehr heraus. Sie steckt da immer noch drin. Wie der Lastwagen unter dem Brunnen an der Piazza del Popolo in Latina.
Aber es war ein Exodus, wie gesagt.
In annähernd drei Jahren verluden sie dreißigtausend von uns auf Züge und brachten uns hierher. Mit Militärzügen. Schubweise. Ein Zug pro Tag. Zehntausend Menschen pro Jahr. Durch ganz Italien mussten wir fahren. Sie karrten uns zu den Abfahrtsbahnhöfen – in Ferrara, Rovigo, Vicenza, Udine, Treviso, Padua –, und abends ging’s los. Am Morgen hatten wir von unseren Häusern und Dörfern Abschied genommen; mit den Lastwagen der Miliz hatte man uns abgeholt, uns geholfen, unsere Sachen aufzuladen, die paar Möbel, das Werkzeug, Tiere, wenn man welche hatte. Alles gut vertäut. Sämtliche Haustiere in Käfige gesperrt, die wir in den Tagen zuvor aus Weidenruten gemacht hatten; es war kein grüner Zweig mehr an den Weidenbäumen der Poebene. In den Tagen des Wartens hatten wir nichts anderes getan als Käfige für unsere Tiere zu bauen, die wir ins Gelobte Land mitnehmen würden, und dieses Binden der Weiden half uns, uns von der alten Welt zu lösen, voller Wut rissen wir die Zweige nun ab, ohne uns mehr darum zu kümmern, ob wir Schaden anrichteten. Früher hätte keiner von uns einer Pflanze etwas zuleide getan. Aber jetzt reicht’s, meine liebe Scholle, jetzt hast du mich vertrieben: Scher dich zum Teufel, du mitsamt all deinen Pflanzen!
Den ganzen Tag lang waren die Lastwagen zwischen unseren alten Häusern in winzigen Ortschaften und dem Provinzbahnhof hin- und hergefahren. Die ersten Auswanderer waren noch bei Dunkelheit angekommen. Hatten ihre Sachen abgeladen, und die Lastwagen waren wieder losgefahren, um die anderen zu holen, bis der Vorplatz voll war. Das Kommissariat für Binnenmigration – wo in den letzten Monaten ausgewählt worden war, die Voraussetzungen geprüft, die Anträge bewertet, gestempelt und beschieden worden waren: »Du ja, du nicht« – hatte schon für jeden der Versammelten einen bestimmten Platz vorgesehen, abgestimmt auf den Platz im Zug neben denen, die auch dort unten seine Nachbarn sein würden. Aber das wussten wir nicht. Wir dachten, die wären zufällig neben uns, und wir würden sie nie wiedersehen. Niemand hatte uns etwas gesagt. Das war eben faschistische Präzision. Und schon auf dem Sammelplatz begannen wir Freundschaft zu schließen mit denen, die ällmählich eintrafen, auch wenn davon einige aus unserem Dorf waren und wir auch schon früher gute Nachbarn gewesen waren. Dann stiegen wir nach und nach in den Zug, ein sehr langer Militärzug, gezogen von zwei Dampfloks, der am Nachmittag eingetroffen war, mit Personenwaggons aus dem Ersten Weltkrieg, Waggons dritter Klasse, durchgehend ohne Abteile, mit Holzbänken und Gepäckablage darüber, alle zwei Sitzbänke Türen zum Ein- und Aussteigen.
Am Anfang des Zuges – gleich hinter der Lok und vor unseren Waggons – war auch ein Wagen zweiter Klasse mit Abteilen und gepolsterten Sitzen, für die Funktionäre des Kommissariats und die Techniker des Nationalen Veteranenverbands, der Opera Nazionale Combattenti, für den Verbandsführer von Rovigo, wenn er mitfuhr, und die Schwarzhemden von der Miliz. Manchmal gab es Waggons zweiter Klasse – aber mit Holzbänken –, wenn sie keine dritter Klasse hatten auftreiben können und der Zug doch vervollständigt werden
Weitere Kostenlose Bücher