Canale Mussolini
– »Das war meine Idee«, sagte er zu dem erwähnten Botschafter –, und am 18. Dezember 1932, nicht einmal sechs Monate nach der Grundsteinlegung, zu der er nicht hatte kommen wollen, kam er, um Littoria mit dem größten Pomp einzuweihen. Und dann hörte er gar nicht mehr auf, gründete eine Stadt nach der anderen – am Ende waren es hundertfünfzig Städtegründungen in ganz Italien, große und kleine –, jeden Tag gründete er ein Dorf oder eine Stadt. »Baufieber« nennt man das bei uns zu Hause.
Eines schönen Tages im Jahr 1934 – also nur zwei Jahre nach der Einweihung von Littoria – wachte er jedenfalls plötzlich in der Früh auf und ließ Rossoni rufen: »Weißt du was? Ich habe meine Meinung geändert, wir machen Littoria zur Provinz.« Littoria Provinz. Und Rossoni ließ die Befehle rausgehen. Alles musste größer und schöner werden, alles musste neu konzipiert und der neuen Rolle angepasst werden. Und den Bahnhof – den man 1932 zu Recht klein und wie einen Dorfbahnhof gebaut hatte, mit der Wohnung für den Bahnhofsvorsteher und seine Frau im ersten Stock, und wenn die Wäsche wusch, hängte sie sie vors Fenster, so dass es den Passagieren, die dort auf den Zug warteten, auf den Kopf tröpfelte – nicht einmal zwei Jahre später, 1934 also, ließen sie den Bahnhof wieder abreißen und von Grund auf neu bauen, schön, monumental und faschistisch, wie Sie ihn heute noch vor sich sehen, mit dem gewölbten Bahnsteigdach, der Bar, den Wartesälen und einem vierstöckigen Gebäude daneben, wo man die Eisenbahner und ihre Kinder, vor allem aber ihre Frauen unterbringen konnte, damit sie endlich ihre Wäsche oben auf der Dachterrasse aufhängten. Doch am damaligen Dorfbahnhof– wo die Frauen herumtröpfelten, nicht der, den Sie heute vor sich sehen –, an dem kamen all die Auswandererzüge in Littoria an, Punkt halb acht Uhr morgens, alle außer unserem. Wir hatten leider Verspätung, und schon seit zwei Stunden schlug sich die Fürstin Caetani mit dem Grappaschöpflöffel in die Hand. »Aber wann kommen die denn heute?«
»Jetzt gleich, jetzt gleich«, sagte der Bahnhofsvorsteher, aber wir kamen nicht. Da legte sie den Schöpflöffel weg und befahl ihren Untergebenen: »Wärmt den Milchkaffee wieder auf«, während die Milizionäre auf dem Bahnsteig vor Kälte die Hacken zusammenschlugen und die von der ONC – die Lastwagen mit laufendem Motor auf dem Vorplatz – nur so fluchten: »Wie sollen wir die denn alle vor dem Abend noch unterbringen?«
Und wir kamen nicht.
Wir waren der einzige Zug, der Verspätung hatte, auch wenn wir ganz pünktlich abgefahren waren. Von unserem Dorf Ca’ Bragadin waren wir lang vor Morgengrauen aufgebrochen, noch mitten in der Nacht, denn von dort bis Rovigo waren es fast vierzig Kilometer. Unsere Vettern Peruzzi hatten uns hingebracht, die, die immer mit uns beisammen gewesen waren, auch in Codigoro; doch dann hatten wir uns auseinandergelebt, bei der Arbeit, bei der Bestellung der Böden und in der Politik. Die Verwandtschaft blieb, die Zuneigung auch, wenn auch ein bisschen zurückhaltend. Sogar sie waren jetzt keine Sozialisten mehr – keiner war es mehr, alle hatten den Faschismus akzeptiert, als sie sahen, dass mit diesem Duce da endlich jemand war, der das Land wirklich regierte, wie man so schön sagt, dass man beruhigt sein konnte, endlich war da jemand, der an alles dachte –, aber sie waren auch keine wirklich eingefleischten Faschisten; nie hörte man von ihnen ein Wort gegen den Duce und gegen den Fascio, und sie gingen auch zu den öffentlichen Kundgebungen, aber man spürte, dass sie bei sich dachten: »Na ist gut: Zäumen wir den Esel so auf, wie der Herr es will, aber wenn er eines Tages stürzen sollte, weine ich ihm bestimmt keine Träne nach.«
Unsere Vettern kamen nicht mit ins Agro Prontino. Auch sie waren vom Grafen Zorzi Vila verjagt worden, und auch ihnen hatte Onkel Pericle angeboten mitzukommen. Aber sie hatten nicht gewollt. »Wir bleiben hier. Irgendwas werden wir schon finden.«
Wie bitte, was sagen Sie? Sie wollen wissen, warum sie es abgelehnt haben?
Ich weiß es nicht. Onkel Pericle hätte ja das ganze Dorf mitgenommen. Er zählte etwas beim Fascio – und es ist sinnlos, dass ich Ihnen noch einmal erkläre, warum –, und es gelang ihm, auch für seinen Schwager eine Siedlerstelle zu bekommen, das war Onkel Dolfin, der die älteste Schwester geheiratet hatte und wie allgemein bekannt Sozialist war, einer der wenigen, die
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