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Canale Mussolini

Canale Mussolini

Titel: Canale Mussolini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pennacchi Antonio
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stecken. Meine Tanten sagten, dass sie ausgerechnet mit dem etwas hatte: »Ach ja, neulich Abend haben wir sie mit dem Pellegrìn auf dem Feld gesehen, sie waren im Graben, wer weiß, was sie da getrieben haben.« Mein Onkel wurde rot und sagte nichts. Er war überzeugt, dass noch niemand etwas bemerkt hatte – und das bei diesen Vipern von meinen Tanten! –, er erwähnte sie nie und gab auch nicht zu erkennen, dass er sie gesehen hatte. Ihm aber – dem Pellegrini – raunte er jedes Mal, wenn er ihn traf, zu: »Nimm dich in Acht.«
    »Was willst du denn?«, erwiderte der andere und tat so, als hätte er keine Angst. Doch er ging ihm aus dem Weg, und es kam selten vor, dass sie sich begegneten. Er wich ihm immer schon vorher aus.
    Mein Onkel dagegen versuchte auf jede Weise, sie zu treffen, zufällig oder absichtlich, allein oder in Gesellschaft. Und sie wich ihm auch nicht aus, sie war schließlich nicht Pellegrini: Komm mir nur unter die Augen, so oft du willst, ich schau dich nicht an und basta. Ja, komm ruhig noch öfter. Du existierst einfach nicht.
    Das nagte an ihm.
    Wie bitte, was sagen Sie? Warum er sie nicht irgendwann aufhielt, warum er nicht versuchte, mit ihr zu reden und ihr etwas zu sagen?
    Ja, dann haben Sie also nicht verstanden. Onkel Pericle hätte eigenhändig ganz Codigoro ertränkt, er hätte es mit Feuer und Schwert überzogen, der fürchtete sich vor nichts und niemandem auf dieser Welt. Aber ihr gegenüber wagte er nicht einmal zu atmen. Hätte sie zu ihm gesagt »verreck«, er wäre auf der Stelle dort verreckt. So aber verzehrte er sich im Stillen und unter Qualen – und unter den tausend Nadelstichen seiner Schwestern: »Eben haben wir eine gewisse Person mit dem Pellegrín am Ufer entlangspazieren sehen« – vier Jahre lang, ohne dass es ihm je gelungen wäre, ihr auch nur ein Wort zu sagen.
    Dann aber – an jenem Abend auf dem Motorrad mit diesem Mistkerl, der ihn nach Hause brachte; als er daran dachte, was er getan hatte, und an die gar nicht guten Aussichten für die nächste Zukunft –, da sagte er sich: »Sei’s drum, jetzt geh ich hin: Schlimmer als so kann der Tag schließlich nicht enden.«
    Es war elf oder vielleicht schon fast Mitternacht. Der Corso war wie gewöhnlich verlassen und kaum beleuchtet. Dazumal gab es ja noch kein Fernsehen oder Kino, Bars oder Diskotheken und Rockmusik. Es gab nicht einmal Radio, und die Leute gingen mit den Hühnern schlafen, weil sie am nächsten Tag – bei Morgengrauen, aber wirklich beim allerersten Lichtstrahl – schon auf den Feldern bei der Arbeit sein mussten. Das war schließlich nicht wie jetzt, wo einer den lieben langen Tag nichts zu tun hat, ganz zu schweigen von der Nacht. Damals musste man in der Nacht schlafen, und niemand war unterwegs, außer Bösewichten.
    Und wie ein Verbrecher ging Onkel Pericle allein mit raschen Schritten den ganzen Corso von Codigoro hinauf, im schwachen Schein von ein paar Straßenlaternen, dass fast der Mond noch heller war, ohne sich einen Schlachtplan zurechtzulegen. Nein, nur: »Jetzt geh ich da hin, und dann wird man sehen. Je eher ich hingeh, desto eher wird Gott eingreifen.«
    Alles hätte er jedoch erwartet – als er aus der Stille und dem Dunkel auf die Piazza trat –, außer die Fenster im oberen Stock, wo sie wohnte, erleuchtet zu sehen, und ein Grüppchen Leute auf der Straße, die sich vor der Casa del Fascio unterhielten, genau am Fuß der Treppe, die nach hinten zum Treppenabsatz zu den Wohnungstüren führte: auf der einen Seite die von ihr und ihrer Familie, auf der anderen die von ihren Nachbarn.
    »Was ist denn los? Die werden doch nicht schon auf mich warten?«, zuckte Onkel Pericle zusammen, von der höchst unwahrscheinlichen Vermutung gestreift, dass man von den Vorgängen in Comacchio schon gehört haben und die Leute sich verabredet haben könnten, um den Mörder zu empfangen und zu bestrafen.
    Doch so war es nicht. Auch hier gab es einen Toten. Es war eine Totenwache. Ein etwa dreißig- oder vierzigjähriger Nachbar hatte am Nachmittag einen Schlaganfall erlitten, während er in der Wirtschaft gegenüber – an der anderen Seite der Piazza – saß und mit Freunden eine Partie Briscola spielte, seinen kleinen Buben auf dem Schoß. Er hatte »Briscola!« gerufen und die Karte hochgehoben, um sie auf den Tisch zu schmettern, und mitsamt der Faust war auch er selbst – fest – mit der Stirn auf dem Tisch aufgeschlagen. Da blieb er liegen, während der Junge von seinen

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