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Canale Mussolini

Canale Mussolini

Titel: Canale Mussolini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pennacchi Antonio
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Verfluchter«, und kaum hatte er »Ich Verfluchter« gesagt, brach er in Tränen aus. Und verbarg das Gesicht in den Händen.
    Aufmerksam geworden durch den unterdrückten Aufschrei des Mädchens, war ein Verwandter des Toten in der Küchentür erschienen, und als er meinen Onkel von hinten schluchzen sah, dachte er sich: »Da schau an, wie gern Pericle meinen Vetter gehabt hat. Wer hätte das gedacht?« Sie winkte ihm gleich beschwichtigend mit der Hand: »Geh nur, geh, ich kümmere mich darum«, und er ging.
    Sie schlossen nicht einmal die Tür. Sie berührte nur seine Hände, um sie ihm vom Gesicht zu nehmen, damit er aufhörte zu weinen. Aber bei der ersten Berührung funkte es. Keiner von beiden begriff mehr etwas. Mein Onkel sah einen Augenblick den Priester wieder vor sich, hörte das dumpfe Krack des Schädels, der unter seinem Stock zerbrach, und das Röcheln und den üblen Geruch, der sofort aus dem nicht länger kontrollierten Anus austrat. Auch Armida nahm noch einmal die Gerüche ihres Toten wahr und den Kopf, der beim Ankleiden leblos hin und her baumelte und bei jeder Bewegung an Wärme verlor, bis er kalt und steif wurde, dieser Mann, der noch beim Mittagessen im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen war und sie gehänselt hatte. Und während vom Flur her leise der Chor der Litaneien drang:
    Sancta Maria. Ora pro nobis.
    Sancta Die Genitrix. Ora pro nobis.
    Sancta Virgo Virginum. Ora pro nobis,
    stürzten sie hinter den Vorhang zur Speisekammer, hielten sich fest an den Armen gepackt. Sie prüfte nur mit einer Hand, ob der Vorhang – ein zerschlissenes und mehrfach von ihr selbst geflicktes Baumwolltuch – sich nicht womöglich im Küchenschrank verfangen hatte, ohne sich wieder ganz zu schließen. Und voller Wut nahmen sie sich, im Stehen, gegen die Wand neben dem Regal mit den Tomatenkonserven gepresst.
    Mater Divinae Gratiae. Ora pro nobis.
    Mater Purissima. Ora pro nobis.
    Mater Castissima. Ora pro nobis,
    ging der Chor der Gebetsgesänge weiter, mit den dünnen, hohen Stimmen der Frauen und den kräftigen, tiefen Tönen der Männerstimmen:
    Turris Eburnea. Ora pro nobis.
    Ianua Coeli. Ora pro nobis,
    während Onkel Pericle zu ihr sagte: »Wart auf mich!«, im Gedanken an all die Jahre Gefängnis. »Wart auf mich, Armida, ich kann ohne dich nicht mehr sein.«
    Und sie: »Ich wart auf dich, ich wart auf dich«, antwortete sie keuchend bei jedem Stoß und erwiderte ihn mit jedem Mal heftiger: »Ich warte für immer auf dich, ich Verfluchte.«
    Und als sie fertig waren – »Amen«, sagte unterdessen der Chor –, spürte mein Onkel, wie seine Seele sich entleerte, ganz in sie einging, um geläutert und erneuert in ihn zurückzukehren. Da dachte er: »Heute habe ich in dir all meine Kinder gezeugt und meinen ganzen Stamm.« Doch das sprach er nicht aus, er hatte Angst vor dem, was er da dachte.
    Aber auch sie – Armida – hatte, als er sich in sie entleerte, gespürt, wie der heilige Strom seiner Nachkommenschaft in sie einging, und gedacht: »Heute hab ich, wie meine Bienen, all deine Kinder in mir empfangen und werde sie, wie meine Bienen, wenn der Zeitpunkt da ist, eins nach dem anderen auf die Welt bringen.«
    Dann sagte Onkel Pericle: »Wart bei der Brücke auf mich«, verabschiedete sich von den Lebenden und dem Toten, ging hinaus und dorthin. Von da an – und ihr ganzes Leben lang –, wenn sich nach der Liebe jeder von ihnen zum Schlafen auf seine Seite drehte und sie ihn gelegentlich zweifelnd im Dunkel fragte: »Aber wenn ich damals nein gesagt hätte, was hättest du da gemacht?«, kam prompt und hart die Antwort: »Dann hätte ich dich auch umgebracht.« Da fiel sie wieder über ihn her, und sie liebten sich noch einmal.
    Dieses Mal jedoch war sie zuerst bei der Brücke, sie war gerannt. Denen, die bei dem Toten wachten, hatte sie gesagt: »Ich muss zu meinen Bienen, ich habe so ein Vorgefühl«, und niemand hatte daran etwas auszusetzen. Vater und Mutter waren daran gewöhnt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit war sie imstande, aufzuspringen und wie der Blitz davonzulaufen: »Sie rufen mich, sie rufen mich.«
    »Sie ist verrückt«, sagte die Mutter. Aber sie sagte es mit einem Lächeln, als ob das ein Vorzug wäre.
    Das mit den Bienen hatte sie von ihrer Großmutter. Bienen waren bei uns nicht sonderlich verbreitet, es gab nur wenige. Sie hatte dieses Bienenhaus aus Holz, das die Großmutter ihr hinterlassen hatte und an dem sie ab und zu ein Stück Holz ausbesserte. Es sah aus wie ein

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