Canard Saigon (German Edition)
Vermutlich sollten sie die letzten Lücken unserer vier Kompanien schließen. Ich lehnte mich an einen Holzzaun und beobachtete die vorbeimarschierenden Männer. Plötzlich entdeckte ich ein bekanntes Gesicht. Ich traute meinen Augen nicht, aber er war es.
„Horst“, rief ich, „Horst Muler, bist du es wirklich?“ Ich winkte und lief auf ihn zu. „Mensch, Horst, du auch hier? Wie geht es dir?“, rief ich und umarmte ihn.
„Hallo Charles“, antwortete er kühl und befreite sich aus meiner Umarmung. Er sah erschreckend aus. Sein Körper wirkte ausgezehrt und müde. Untergewichtig, mit gebeugten Schultern, wirkte er, als ob er eine schwere Last zu schleppen hätte. Sein Gesicht war schmal geworden, tiefe Falten krümmten sich um seine Mundwinkel. Schwarze Ringe um die Augen und schlaff hängende Tränensäcke bildeten einen grausigen Kontrast zur wettergegerbten, aber fahlen Haut. Aber am befremdendsten war sein Blick. Mit leicht zusammengekniffenen Lidern starrte er mich an. Und ich hatte das Gefühl, dass er durch mich durchsah. Er blinzelte nicht, nur das linke Augenlid zuckte ein wenig. Seine Stimme war noch krächzender geworden. Er musterte mich kurz und fixierte einen Augenblick meine Rangabzeichen. Dann sah er mir durchdringend in die Augen.
„Hast es ja weit gebracht, Sergent Charles Wegner“, sagte er mit eisigem Ton. „Du siehst gut aus, Sergent Charles. Hast gelebt wie eine Made im Speck, nicht wahr?“ Sein Ton war sarkastisch, fast feindselig.
Ich war sprachlos, wusste nicht, wie mir geschah. Der freudigen Überraschung, Horst wiederzusehen, folgte blitzschnell Ernüchterung. Ich stand da wie ein begossener Pudel und brachte kein Wort heraus.
„Du entschuldigst mich jetzt, Sergent Charles, ich muss weiter“, sagte Horst und ließ mich einfach stehen. Nach ein paar Schritten drehte er sich kurz um.
„Wir sehen uns noch, Sergent Charles, wir werden noch oft das Vergnügen haben.“
Während er wieder weitermarschierte, lachte er laut auf. Es war ein gehässiges, ja irres Lachen. Ich erschauderte. Nachdenklich sah ich ihm nach, wie er wieder Anschluss an seine Truppe fand und sich einreihte.
Ich spazierte weiter, Richtung Stadt. Die seltsame Begegnung mit Horst ging mir nicht aus dem Kopf. Er sah furchtbar aus. Das Strafbataillon hatte ihm sichtbar zugesetzt. Die zwei Jahre waren längst zu Ende, aber vielleicht hatte er sich etwas zuschulden kommen lassen. Dann wurde die Strafzeit verlängert. Jedenfalls sah er aus wie frisch ausgekotzt. Und diese Feindseligkeit mir gegenüber. Machte er etwa mich für sein Schicksal verantwortlich? Ich ließ nochmals die Geschehnisse am Camerone-Tag 1951 Revue passieren. Übersah ich etwas? Hatte ich mich unkorrekt verhalten? Machte er mich für den Tod seines besten Freundes verantwortlich? Soviel ich auch nachdachte, ich kam auf keinen grünen Zweig.
Inzwischen hatte ich den Fluss erreicht und spazierte grübelnd entlang des Ufers. Ich stieg die sanfte Böschung hinauf, um eine Bambusgruppe zu umrunden. Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Etwa zehn Meter vor mir erblickte ich die Silhouette eines Mädchens. Sie saß mit angezogenen Knien auf einem Stein, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, und las in einem Buch. Ihr Körper verdeckte die Sonne, so dass ich nur ihr schattiges Profil, umrahmt von einem Lichterkranz, erkennen konnte. Der leichte Wind spielte mit ihren langen Haaren. Wie weggewischt waren die Gedanken an Horst. Ich war bezaubert vom Anblick dieses Mädchens. Plötzlich bemerkte sie mich. Erschrocken klappte sie das Buch zu und sprang auf.
„Hallo, keine Angst, ich beiße nicht“, rief ich ihr freundlich zu und lachte. „Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe, das wollte ich nicht.“
Sie wirkte ängstlich. Schnell sah sie sich um und schien zu überlegen, ob sie weglaufen sollte oder nicht.
„Ich bin ein harmloser Spaziergänger und tue keiner Fliege etwas zuleide, schon gar nicht einem hübschen Mädchen“, versuchte ich ihre Furcht zu besänftigen. Ich ging langsam auf sie zu. Mit jedem Meter, den ich näher kam, wichen die Schatten von ihrer Gestalt. Erst als ich vor ihr stand, offenbarten sich mir ihre atemberaubende Schönheit und Anmut. Sie sah verlegen zu Boden.
„Ich habe dich gar nicht bemerkt. Ich war so in mein Buch vertieft und bin ziemlich erschrocken“, flötete sie in akzentfreiem Französisch.
„Ich bin Charles“, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen. Sie sah mich an und ergriff sie
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