Canard Saigon (German Edition)
ausgedacht?“
„Fritz hat die Eckdaten ausgedruckt. Sie stimmen mit seinen Angaben überein“, antwortete Marc.
„Welches Gefühl hattest du? Klang er glaubhaft?“, fragte Nicole Sandmann.
„Absolut. Der Mann hat Charisma. Ich habe das gesamte Gespräch auf Band. Ihr könnt jederzeit reinhören. Auch seine Körpersprache war überzeugend. Ich hatte zu keiner Zeit den Eindruck, dass er übertreibt oder etwas erfindet. Aber ihr wisst, eine 100-prozentige Garantie gibt es nie.“
„Dass Herr Wegner Details wie die Entenfedern oder die genaue Art der Fesselung kennt, gibt mir zu denken“, sagte Sandra Kessler. „Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich diese Geschichte im Kopf eines Zuhörers festgefressen hat.“
„Aber nach so langer Zeit?“, fragte Martin. „Ich weiß nicht. Wenn jemand von einer bestimmten Vorstellung so besessen ist, dann wird er sie sofort umsetzen. Und nicht 22 Jahre danach.“
„Unterschätze nicht die Psyche des Menschen. Manchmal durchlaufen Fantasien einen schier endlosen Reifeprozess. Und die meisten dieser Fantasien werden nie verwirklicht. Kollegen, wie viele Tagträume habt ihr selbst? Und wie viele davon tragt ihr schon jahrelang mit euch herum? Was habt ihr euch ausgemalt, solltet ihr im Lotto gewinnen? Wer von euch möchte sich nicht an irgendeiner Person rächen, die euch Schlimmes angetan hat? Und was habt ihr dieser Person in euren Wunschträumen schon alles angetan? Oder welche sexuelle Praktiken würdet ihr gern ausprobieren? Und mit wem? Und spielt Gewalt dabei eine Rolle? Wir spielen mit unseren Vorstellungen. Dieselben Fantasien schmücken wir mit immer neuen Facetten aus. Und wir stellen uns den Kick vor, den uns die Verwirklichung verschaffen würde. Das ist eine Welt, an der wir niemanden teilhaben lassen. Ein zutiefst privater Teil von uns. Jeder von uns hat diese dunkle Seite. Wenn uns jemand diese Fantasien zusprechen würde, wir würden sie entrüstet von uns weisen. Aber sie sind ein Teil von uns. Als soziale Wesen haben wir eine Fülle von Schutzmechanismen entwickelt, die uns vor der Umsetzung unserer Fantasien schützen. Allerdings können Faktoren zusammentreffen, die diese Schutzmechanismen außer Kraft setzen. Treten bestimmte Stressfaktoren in kürzerer Zeitspanne auf, kann es sein, dass eine Fantasie zu einer fixen Idee wird. Plötzlich werden Schwellenängste überwunden. Die fixe Idee wird zum Lebensinhalt und deren Verwirklichung zum inneren Zwang. Die Zeitspanne vom ersten Auftreten der Fantasie bis zur Umsetzung spielt dabei keine Rolle.“
„Magst schon recht haben, Sandra“, sagte Martin. „Trotzdem habe ich meine Bedenken. Überlegt doch mal. Ein Mann erzählt vor 22 Jahren eine Geschichte. Zugegeben, eine packende Geschichte. Wie viele Personen haben damals zugehört? Zwölf? Dreizehn? Egal, wenn jeder Zuhörer die Geschichte drei weiteren Personen erzählt hat, sind wir bei etwa 40. Dann geht es mit Hörensagen weiter. Wir hätten es also mit gut und gerne 120 potenziellen Tätern zu tun.“
„Die nicht mehr zu eruieren sind“, ergänzte Paul Valek. „Wie soll jemand nach über 20 Jahren wissen, wem er damals die Geschichte erzählt hat?“
„Richtig, ich weiß nicht, wo wir die Ermittlungen ansetzen sollen“, sagte Martin.
„Ich schon“, sagte Marc. „Die Nachforschungen beginnen immer am Ausgangspunkt. Und das ist das besagte Seminar vor 22 Jahren.“
„Da wünsche ich uns viel Glück“, sagte Martin mit einem Anflug von Verärgerung. „Ich denke, dass wir uns verzetteln. Wir sollten uns besser auf den Doktor konzentrieren. Da haben wir wenigstens Ansatzpunkte.“
„Die haben wir auch bei der Legionärsgeschichte“, erwiderte Sandra. „Denk an die Federn und die Fesseln.“
„Und wer sagt, dass diese Geschichte nicht durch eine Art stille Post an die Ohren von Klein gelangt ist? In 20 Jahren können solche Informationen seltsame Wege zurücklegen“, beharrte Martin Schilling.
„Gut, ich entnehme euren Wortmeldungen, dass wir uns in der Einschätzung nicht einig werden“, fasste Marc zusammen. „Wir werden also zwei Schwerpunktgruppen bilden. Martin, Paul und Nicole kümmern sich hauptsächlich um Dr. Klein. Sandra, Johannes und ich untersuchen die Hinweise des alten Legionärs.“
Mit dieser Strategie konnten sich alle Teammitglieder anfreunden. Marc schloss die Sitzung, und die Ermittler machten sich an die Arbeit.
Wien, Freitag, 23. April 2010, 15.15 Uhr
Mit einem schnellen Handgriff klappte
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