Canard Saigon (German Edition)
sah die folierten Blätter. Auf einem Blatt stand die Einladung zum Seminar, auf dem anderen die Liste der Teilnehmer.
„Darf ich mir den Ordner ausborgen, oder haben Sie ein Kopiergerät im Haus?“
„Weder noch“, sagte der Professor mit feindseligem Unterton. „Wenn ich die Unterlagen aus der Hand gebe, sehe ich sie nie wieder. Ich kenne euch Brüder.“
„Darf ich die Blätter bitte fotografieren?“, fragte Marc höflich. Er musste sich zurückhalten, denn die Art und Weise, wie Kaiser mit ihm sprach, trieb seinen Pulsschlag in die Höhe.
„Von mir aus können Sie die Liste auch auswendig lernen, aber das wäre von einem Polizisten wohl zu viel verlangt.“
Marc biss sich auf die Lippen und holte sein Handy aus der Hosentasche. Er wählte die Fotofunktion und schoss schnell einige Bilder, bevor der Professor es sich vielleicht anders überlegte.
„So, jetzt ist es genug“, sagte Kaiser, klappte den Ordner zu und stellte ihn wieder auf seinen Platz. Gut, dass Marc seine Aufnahmen bereits im Kasten hatte. Sie gingen wieder ins Wohnzimmer, aber Marc setzte sich nicht wieder hin. Er wollte nur raus.
„Herr Professor, ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen. Es war ein Erlebnis, mit Ihnen zu sprechen.“
„Wozu brauchen Sie die Teilnehmerliste überhaupt“, fragte der Professor auf dem Weg zur Tür. „Hat einer von denen seinen Strafzettel nicht bezahlt?“
„Herr Dr. Kaiser, haben Sie schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht? Ich spüre eine gewisse Feindseligkeit in Ihren Worten.“
„Das können Sie annehmen“, antwortete der Mann mit einem Anflug von Entrüstung. „Ich war 1984 bei der Besetzung der Hainburger Au dabei. Da habe ich die brutalen Schlägermethoden der Polizei am eigenen Leib verspürt. Einer dieser uniformierten Raufbolde hat mir seinen Schlagstock über den Kopf gezogen.“
„Und? Haben Sie den Kerl verklagt, Herr Doktor? Ich meine, der bleibenden Schäden wegen.“ Marc öffnete die Tür und trat in den Hausflur.
„Aber ich habe keine bleibenden Schäden.“
Marc wandte sich um und sah dem verdutzten Professor ins Gesicht.
„Den Arzt, der Ihnen das bescheinigt hat, sollten Sie auch verklagen. Wie könnte es sonst sein, dass Sie bei der Wiener Elementar damals angegeben haben, dass Sie Psychologe sind, obwohl Sie Politologie studiert haben? Nein, nein, Herr Dr. Kaiser, verklagen Sie den Arzt. Da ist ein Batzen Geld für Sie drin“, sagte Marc, drehte sich um und ging, ohne auf eine Antwort zu warten.
Als er zu seinem Auto kam, freute er sich, kein Strafmandat auf seiner Windschutzscheibe zu finden. Damit ersparte er sich unnötige Schreibarbeit. Marc setzte sich ins Auto und übermittelte die Fotos an Johannes Schmied. Dann rief er ihn an und bat ihn, die Namen der Seminarteilnehmer auszuwerten. Danach telefonierte er mit Martin Schilling.
„Klein hat sich für heute kurzfristig freigenommen“, berichtete Martin. „Er hat das Spital am Morgen verlassen und ist unauffindbar. Sein Handy ist ausgeschaltet. Ich habe die Überwachung seines Hauses veranlasst und auch einen Wachposten im Spital eingerichtet. Ich hoffe, dass der Doktor im Laufe des Nachmittags wieder auftaucht. Und habt ihr Fortschritte gemacht?“
„Wir haben die Teilnehmerliste des Seminars eruiert. Morgen wissen wir mehr“, antwortete Marc. „Übrigens, hast du die Ergebnisse der ersten Draft-Runde gesehen?“
„Hör auf, ich verstehe meine 49ers nicht. Ich meine, Mike Iupati ist ein hervorragender Offense Tackle, aber wir hätten einen Quarterback gebraucht. Und wie zufrieden bist du?“
„Die Dallas Cowboys bräuchten einen Offense Tackle. Aber ich glaube, mit dem Wide Receiver Dez Bryant haben wir ein Schnäppchen an Land gezogen. Er gilt allerdings als Problemkind.“
„Lassen wir uns überraschen, was die Saison bringt“, sagte Martin. „Und nächstes Jahr sollen die gefälligst uns fragen. Wir würden nicht einmal Geld dafür verlangen.“
Marc lachte und verabschiedete sich von Martin. Er blickte auf die Uhr. Es war 17.13 Uhr. Nach kurzer Überlegung, was er heute noch tun konnte, entschied er sich, nach Hause zu fahren.
Wien, Freitag, 23. April 2010, 20.00 Uhr
Die Finger seiner rechten Hand trommelten auf dem Lenkrad. Er war unentschlossen. Dabei hatte er Großes vor, heute Nacht. Er stierte durch die getönten Windschutzscheiben, ohne die Außenwelt bewusst wahrzunehmen. Zu sehr war er in Gedanken vertieft. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Sein Schädel
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