Canard Saigon (German Edition)
Schritttempo zu fahren. Die Gelegenheit nutzte er, um mit Freddy zu telefonieren. Sie war in Wiesen und besprach mit Franz Bogner die Details für das Musikfestival. Marc sagte ihr, dass sie sich nicht beeilen müsse, denn er könne Sina vom Training abholen. Er blickte auf die Uhr und stellte zufrieden fest, dass er genügend Zeit hatte. Er würde Sina beim Training zusehen können.
Fünf Minuten vor halb acht betrat er leise die Trainingshalle. Der Platz, auf dem die Turngeräte verstaut waren, bot die Möglichkeit, beim Training zuzusehen, ohne zu stören. Neun Karatekas, davon zwei Mädchen, absolvierten ihre Übungen. Sie simulierten Kämpfe unter Wettkampfbedingungen. Zwei Minuten Kampfzeit, der Trainer fungierte als Schiedsrichter. Sina stand auf der Matte und hatte einen großen kräftigen Burschen als Gegner. Mit 164 Zentimetern war sie die kleinste Sportlerin im Verein und reichte ihrem Kampfpartner gerade bis zur Schulter. Es war ein ungleicher Kampf. Sina wirbelte über die Matte und traf ihren Gegner nach Belieben. Mit ihrer Beweglichkeit und ihrer perfekten Technik machte sie den Größenunterschied mehr als wett. Marc fiel auf, dass Sina ausschließlich mit Fauststößen agierte und keine Fußschläge einsetzte. Nach zwei Minuten wechselten die Paarungen, und Sina hatte Zeit, sich zu erholen. Beim nächsten Durchgang hatte sie einen etwa gleich großen, erfahrenen Kampfpartner. Das Ergebnis war das gleiche. Der kleine Blondschopf war aggressiv im Angriff und konterte eiskalt aus der Defensive. Marc sah ihr gern zu. Sina war eine erstklassige Sportlerin. Mit 16 war sie erstmals ins Nationalteam einberufen worden. Sie durfte zwar nur bei den Junioren starten, aber mit den Senioren mittrainieren. Heuer, nach ihrem 18. Geburtstag im Juli, würde sie in die allgemeine Klasse der Senioren wechseln. Sina war überaus ehrgeizig. Jetzt stand sie unmittelbar vor der Matura, daher reduzierte sie ihren Trainingsaufwand auf eine Einheit pro Tag.
Marc hatte früher ebenfalls den Karatesport ausgeübt. Zu nennenswerten Erfolgen hatte er es aber nie gebracht. Dafür war sein Trainingsaufwand zu gering gewesen. Immerhin hatte er es bis zum dritten Kyu, einem braunen Gürtel, geschafft. Wesentlich erfolgreicher war er als Funktionär. Als Präsident des Landesverbandes wurden ihm zwei Ehrendan für besondere Verdienste um den Karatesport verliehen.
Marc und seine Frau Freddy unterstützten die sportlichen Ambitionen ihrer Kinder in jeder Beziehung. Auch Sohn Michael hatte beste Ansätze zu einem erstklassigen Karateka, zog es aber vor, Fußball zu spielen. Marc und Freddy brachten ihre Kinder zum Training und begleiteten sie zu Wettkämpfen. Freddy kümmerte sich um die Ernährungspläne, und Marc erstellte die Trainingspläne. Sie bildeten eine eingeschworene Sportfamilie, in der sich jeder auf jeden verlassen konnte.
„Und, wie war das Training?“, fragte Marc seine Tochter, als sie von der Halle wegfuhren. Eine mittlerweile vertraute, stereotype Frage. Marc und seine Kinder hatten sich auf eine Feedback-Regel geeinigt, die nach jedem Training und nach jedem Wettkampf zur Anwendung kam. Sie sprachen über ihre Eindrücke. Erst über die positiven Empfindungen, dann über etwaige negative Aspekte.
„Meine Fausttechniken waren ganz gut“, antwortete Sina. „Auch die Distanz zum Gegner hat gepasst. Mit den Beinen ging gar nichts. Ich weiß nicht warum, aber ich habe mich unsicher gefühlt.“
„Hab ich auch so gesehen“, stimmte Marc der Analyse zu. „Ein paar Kontertechniken sind dir gelungen, die waren Weltklasse. Zweimal hast du die Gegner ins Leere laufen lassen, hast aber nicht nachgesetzt. Und manchmal wären Beintechniken richtig gewesen.“
„Ehrlich gesagt, der scheiß Maturastress macht mir zu schaffen. Ich bin nicht so bei der Sache, wie ich es sein müsste.“
Marc lachte. „Na, was werden die armen Burschen erst mitmachen, wenn du die Matura hinter dir hast? Die waren heute schon hilflos.“
„Ach, die faulen Säcke sollen mehr trainieren“, meinte Sina trocken.
„Und wie geht es dir in der Schule?“
„Frag nicht“, seufzte Sina. „Die Lehrer decken uns mit Lernstoff ein, dass ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Heute muss ich noch ein Referat fertigstellen und zwei Hausübungen machen.“
„Tut mir leid, Sina, aber ich kann dir heute nicht helfen. Ich muss selbst eine Nachtschicht einlegen.“ Marc erinnerte sich an seinen dicken Ordner.
„Das muss ich ohnehin allein
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