Canard Saigon (German Edition)
vor.
Charles Wegner ging vor Marc durch den Flur der kleinen Wohnung. Rechts befand sich die Garderobe und die Tür links führte vermutlich ins Bad. Sie gingen durch die offene Wohnzimmertür und Wegner bot Marc einen Platz an.
„Welchen Rang haben Sie? Wie darf ich Sie ansprechen, Herr Vanhagen?“
Marc war etwas überrascht von der Frage, denn üblicherweise sprachen ihn die Menschen mit Herr Kommissar an.
„Mein Rang ist Oberst, aber bleiben wir bei Vanhagen.“
„Darf ich Sie zu einem guten Glas französischen Rotwein einladen, Herr Vanhagen?“
Marc lehnte dankend ab und entschied sich für ein Glas Mineralwasser. Während Charles Wegner in der Küche verschwand, sah sich Marc um. Die Einrichtung sah aus wie aus dem Prospekt eines Möbelhauses. Alle Möbel aus Kirschholz, die Polstergarnitur und die Vorhänge hellblau, mit einer zartrosa Musterung. Der Flachbildfernseher war in einem Wandverbau integriert. Die Wände waren mit beiger Cremefarbe gestrichen. Auffällig, weil nicht ins Ensemble passend, waren zwei Fotos an der Wand. Auf dem einen war eine Familie mit zwei Kindern zu sehen. Das andere war ein Schwarzweißbild, das eine Gruppe Soldaten zeigte. Als Wegner mit den Getränken kam, lächelte er.
„Gewöhnungsbedürftig, nicht wahr?“
Marc sah ihn fragend an.
„Na, die schöne Einrichtung hier.“ Wegner setzte sich und bot Marc eine Gauloises Brunes Filter an, eine Zigarette, die noch mit dem schwarzen, französischen Tabak gedreht wurde. Marc nahm dankend an.
„Ich wurde im Jänner 81 Jahre alt. Meine Tochter und mein Schwiegersohn wollten mir eine Freude machen und schenkten mir dieses Zimmer. Ohne mich vorher zu fragen, es sollte ja eine Überraschung werden. Na ja, wissen Sie, Herr Vanhagen, die beiden hatten eine solche Freude mit ihrem Geschenk, dass ich mich eben daran gewöhnen werde. Aber der neue Fernseher ist wirklich klasse.“
Plötzlich fiel Marc Vanhagen ein, an wen ihn der alte Herr erinnerte. An Jean Gabin, den großen Schauspieler. Die Ähnlichkeit in Aussehen und Sprechart war verblüffend.
„Charles Wegner klingt sehr französisch, sind Sie Franzose?“
„Na, Vanhagen klingt aber auch nicht nach einem typischen Wiener Namen“, konterte der alte Herr schlagfertig.
Marc lachte. „Da haben Sie recht. Mein Urgroßvater war Holländer und hat sich, der Liebe wegen, in Österreich angesiedelt.“
„Die Geschichte meines Namens ist etwas komplizierter, aber Sie haben natürlich recht, es ist ein französischer Name.“
„Herr Wegner, Sie haben sich an uns gewandt, weil Sie uns Hinweise in der Mordserie geben können?“, sprach Marc den Grund seines Besuches an.
„Ja, Herr Vanhagen, ich fürchte, dass ich an den Morden schuld bin“, antwortete Wegner mit ernster Stimme. „Ich weiß, Sie halten mich für verrückt, aber wenn ich meine Geschichte erzählt habe, werden Sie mir vielleicht glauben.“ Er blickte auf seine alte Armbanduhr. „Ich habe jedoch ein Zeitproblem. Meine Tochter hat heute Geburtstag. Sie und ihr Mann kommen um 19 Uhr hierher, um mit mir zu feiern. Und eine Stunde wird für meine Geschichte sicher nicht reichen. Wir werden noch einen Termin vereinbaren müssen.“
Marc schaute skeptisch. Der nette alte Herr wirkte gar nicht verrückt. Aber was er ihm hier ankündigte, war mehr als außergewöhnlich.
„Herr Wegner, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Erzählen Sie mir jetzt einfach die wichtigsten Fakten, und wenn ich noch Fragen habe, können wir immer noch einen Termin ausmachen.“ Marc bedauerte seinen Entschluss, hierher gefahren zu sein. Die Befragung würde doch länger dauern, als er gedacht hatte.
„Einverstanden“, meinte Charles Wegner. „Ich muss allerdings weiter ausholen, damit Sie verstehen, was ich mit den Morden zu tun habe. Ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte. Sie sind der erste Mensch, dem ich sie zur Gänze erzähle. Nicht einmal meine Familie weiß Bescheid, denn über meine Vergangenheit rede ich nicht viel. Jetzt habe ich mich dazu entschlossen, denn dieses Morden muss aufhören.“
Marc holte sein Diktafon aus dem Sakko und drückte den Aufnahmeknopf.
München, Marseille, Algerien, 1946
Ich war 17 Jahre alt, als ich am 21. Februar 1946 am Münchner Hauptbahnhof herumlungerte. Drei Tage erst war ich in dieser Stadt, die mich nicht ausstehen konnte. Ich hungerte, ich war pleite und ich fror. Nach meiner Ankunft in München hatte mich eine Bande überfallen, zusammengeschlagen und beraubt. Mein Gesicht
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