Candy
meinem Gehirn alles zu einem Nebel verdichtete. Ich sah ständig Dinge, die gar nicht da waren: moosbewachsene Stämme, wächserne grüne Blätter, merkwürdig aussehende Farne … alles verschleiert, dunkel und vor Nässe tropfend.
Erinnerungen
, sagte ich mir,
es sind bloß abgespeicherte Erinnerungen des Gehirns, Hoffnungen. Eine Art des Verdrängens …
Was immer sie auch sein mochten, die Bilder verschwanden, als vom andern Ende des Wegs her ein doppelter Scheinwerferstrahl den Wald erhellte.
»Mach das Licht an«, sagte ich zu Candy.
»Warum?«
»Iggys Anweisung. Zieh die Vorhänge auf und mach die Lichter an, dann komm wieder her und warte mit mir zusammen.«
|373| Die Scheinwerfer kamen jetzt den Weg hinunter. Sie bewegten sich langsam, schwankten auf der holprigen Fahrbahn und das harte weiße Licht tauchte die vorbeiziehenden Baumstämme in ein Grau. Soweit ich sehen konnte, war es nur ein Wagen.
»Glaubst du, es ist Iggy?«, fragte Candy.
»Keine Ahnung … ich glaub nicht, aber wir machen lieber alles so, wie er gesagt hat – für alle Fälle. Außerdem ist es auch für Mike einfacher, wenn die Lichter an sind. Er kann dann das Haus besser sehen.«
Während Candy umherging, alle Lichter anmachte und die Vorhänge aufzog, blieb ich am Fenster stehen, den Blick starr auf den herannahenden Wagen gerichtet. Als er herankam, erfüllte das Schnurren des Motors die Nacht und beraubte den Wald seiner Stille. Ich sah, wie sich die Auspuffdämpfe mit dem Nebel vermischten, und ich sah auch den dunklen Schimmer des Metalls … doch den Fahrer erkannte ich immer noch nicht. Die Scheinwerfer strahlten zu grell. Das Einzige, was ich sah, war eine vage Silhouette in der sternenglitzernden Glasspiegelung.
Es war die Silhouette eines Mannes.
Er war groß.
Er war dunkelhäutig.
Er steuerte den Wagen auf die Lichtung vorm Haus.
Als der Doppelstrahl der Scheinwerfer über die Bäume schwenkte, trat Candy neben mich und schaute aus dem Fenster.
»Ist er es?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht …«
Der Wagen hielt an. Er stand ungefähr zwanzig Meter vom Haus entfernt, die Scheinwerfer auf uns gerichtet. Der Motor brummte im Leerlauf. Der Fahrer saß ohne Gesicht da und rührte |374| sich nicht.
Auf einmal merkte ich, wie kalt mir war. Ich fühlte mich nutzlos und ich hatte Todesangst. Was tun, wenn es wirklich Iggy war? Ich hatte keine Vorstellung. Ich hatte noch nicht mal drüber nachgedacht. Unmöglich. Ich hoffte nur …
»Schau«, sagte Candy und berührte meinen Arm.
Ich sah, wie sich der Fahrer in seinem Sitz nach vorn beugte, dann gingen die Scheinwerfer aus und ich sah nichts mehr. Die plötzliche Dunkelheit machte blind. Meine Augen brannten von dem blendend weißen Nachbild des Scheinwerferlichts, doch jenseits davon sah ich nichts. Ich spürte Candys Hand, die nach meinem Arm griff, hörte, wie der Motor ausgeschaltet wurde … und sich die Wagentür öffnete … und zuschlug … und dann Schritte, die sich über die Lichtung bewegten …
Auf uns zubewegten.
Lauter wurden.
Näher kamen.
Form gewannen …
Die Dunkelheit lichtete sich. Meine Augen gewöhnten sich wieder an den Sternenlichterglanz. Ich erkannte …
Eine Form.
Eine Gestalt.
Ein vom Mond erhelltes Gesicht.
»Mike?«, sagte ich hoffnungsvoll.
Seine Augen leuchteten kalt auf, als er in das Licht des Fensters trat. Er trug nur ein T-Shirt und Jeans, aber falls ihm die Kälte etwas ausmachte, dann zeigte er es zumindest nicht. Er zeigte überhaupt nichts. Er schaute sich nur um und überprüfte die Gegebenheiten, danach wandte er sich mir zu und sprach leise.
|375| »Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Seid ihr allein?«
Ich nickte.
Er starrte mich eine Weile eindringlich an, um sicherzugehen, dass ich die Wahrheit sagte, dann schaute er zu Candy, nickte und verschwand Richtung Haustür. Als ich durchs Zimmer lief, um ihn reinzulassen, schaute ich auf die Uhr. Es war fünf nach halb neun.
Die Welt raste wie verrückt.
»Habt ihr irgendwas gehört?«, fragte Mike, als er zur Tür hereinkam. »Hat Iggy angerufen?«
»Nein.«
»Okay, eins nach dem andern – der Wagen muss aus dem Blickfeld.«
»Du kannst ihn hinterm Haus abstellen.«
»Gut.« Er blickte sich sorgfältig im Zimmer um, nahm alles auf, dann beugte er sich – offenbar zufrieden mit dem, was er sah – zu mir hinunter und legte mir die Hand auf die Schulter. »Keine Sorge«, sagte er und schaute mir in die Augen. »Alles
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