Candy
Blick nicht vom Wagen wenden – ich wollte Gina |382| sehen … ich wollte sie
sehen
– aber Candys Schweigen machte mich fertig. Ich musste wissen, ob mit ihr alles in Ordnung war. Ich musste
sie
sehen … ich konnte nicht anders.
Ich wandte den Kopf und schaute durchs Zimmer. Sie stand hinter dem Küchenbüfett, so leblos, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Mit toten Augen starrte sie vor sich hin, wie besinnungslos. Sie hatte aufgegeben.
»Candy«, rief ich ängstlich. »Candy … hörst du mich?«
Sie antwortete nicht.
»Hör zu«, sagte ich zu ihr, »es ist in Ordnung, alles ist okay. Hab keine Angst. Komm einfach rüber …«
Ihre Augen bewegten sich nicht.
»Mike?«, sagte ich.
»Ich hol sie«, sagte er, kroch hinter dem Sofa vor und rutschte über den Fußboden. »Schau du nach dem Wagen.«
In mir staute sich jede Menge Zeug auf, Dinge, die ich noch nie empfunden hatte – Angst und Wut, gegeneinander schneidend wie abgebrochene Messer, die knirschten und etwas erzeugten, das ich nicht unter Kontrolle hatte. Als ich mich abwandte und wieder in die Scheinwerfer starrte, brannte mir das blendende Licht den Wahnsinn in meine Augen. Die Musik hämmerte in meinem Kopf, pumpte das Blut durch die Adern und ließ mein Herz zerplatzen … und ich wollte Gesichter sehen. Dunkelheit. Körper. Ich wollte durch das Fenster brechen. Ich wollte den Nebel anschreien, durch die Nacht rennen und die Bäume zu Boden reißen …
Ich wollte Gina.
Ich wollte Candy.
Ich wollte nicht sterben.
|383| Ich wollte …
Nichts.
Plötzliche Stille.
Die Musik hatte aufgehört. Der Motor war aus. Die Scheinwerfer brannten stumm in der tödlichen Stille. Es war nichts zu hören, nur das Summen des Nachklangs, das die Nacht zurückwarf, und – vom anderen Ende des Zimmers – Mikes flüsternde Bitten an Candy.
»Bitte …«, sagte er zu ihr, »es ist für Gina … Zeig ihnen nur, dass du hier bist. Alles, was du tun musst, ist mit Joe am Fenster stehen. Ich werde nicht zulassen, dass Iggy dir irgendwas antut, versprochen.«
Ich warf einen Blick hinüber und sah sie zusammen am Küchenbüfett stehen. Candy hatte sich nicht gerührt. Sie war noch immer abgestorben der Welt gegenüber, noch immer verloren in dem, was von ihr übrig war. Mike stand neben ihr, hielt ihre leblose Hand und starrte verzweifelt in ihre leblosen Augen.
»Hey!«, rief eine Stimme vom Wagen draußen und riss meine Aufmerksamkeit zurück zum Fenster. »Hey, Junge – hörst du?«
Ich beschattete wieder meine Augen vor den Scheinwerfern und versuchte zu sehen, wer rief. Es klang nicht nach Iggy.
»Mach das Fenster auf«, sagte die Stimme.
Ich zögerte.
»Mach’s auf«, flüsterte Mike. »Tu, was er sagt.«
Ich tastete nach dem Griff und öffnete das Fenster. Die Scheinwerfer strahlten noch heller und mein Atem wurde weiß.
»Wo ist sie?«, fragte die Stimme aus dem Wagen.
Jetzt, da das Fenster offen stand, konnte ich viel besser hören und ich war ziemlich sicher, dass es nicht Iggy war.
|384| »Was?«, rief ich zurück.
»Du hast mich schon verstanden – wo ist sie?«
»Wo ist Gina?«, flüsterte Mike.
Ich wusste nicht, was er meinte. Fragte er mich, wo sie war? Oder forderte er mich auf, die da draußen zu fragen? Ich wollte ihn fragen, aber ich konnte nicht. Sie beobachteten mich. Sie würden sehen, dass ich sprach. Sie durften mich aber nicht sprechen sehen …
Was sollte ich tun?
Meine Gedanken wirbelten durcheinander, ich geriet in Panik, versuchte zu denken …
Und dann öffnete sich mein Mund und ich hörte mich sagen: »Wer fragt das?«
»Was?«
, zischte Mike.
»Was?«, sagte die Stimme.
»Du hast mich schon verstanden«, sagte ich. »Wer
bist
du?«
»Verdammt …«, murmelte Mike.
Im Innern des Wagens lachte jemand anderer – ein kaltes, hartes Lachen, das mir das Herz zusammenzog – und auf einmal dachte ich:
Scheiße, was machst du? Was redest du da? Was zum Teufel denkst du dir da zusammen? Keine Fragen, hat Iggy gesagt … keine Fragen …
Aber dann rief seine Stimme so tief und dunkel wie die Nacht und ihr Klang war seltsam beruhigend.
»Wir hatten einen Deal, Junge«, sagte er ruhig. »Du hast ihn dir grade versaut.«
»Den Deal hab ich mit
dir
«, rief ich zurück, »mit sonst niemand. Das Einzige, was ich bis jetzt gehört hab, war eine Stimme. Eine, die jedem gehören konnte. Ich musste sicher- gehen, dass |385| du’s bist.«
»Bist du jetzt sicher?«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher