Candy
meine Finger plötzlich auf irgendetwas Unvertrautes. Jeder weiß ja, wie das mit dem Kram in den Taschen ist: Meistens kann man ziemlich genau sagen, was drin ist – das ist eine Pfundmünze, das ist eine Zugfahrkarte und das ist ein Plektrum. Und dann auf einmal das merkwürdige Gefühl, wenn man seine Hand in die Tasche schiebt und sich die Finger um etwas schließen, das völlig fehl am Platz ist und gar nicht dort sein dürfte.
Tja, genauso fühlte ich mich in dem Moment. Meine Finger hatten sich um etwas geschlossen, das gar nicht hätte da sein dürfen. Es fühlte sich an wie ein zusammengerolltes Stück festes Papier und erst glaubte ich, es wäre eine Zugfahrkarte. Aber für eine Zugfahrkarte war es zu klein und außerdem würde ich sowieso |65| niemals eine Fahrkarte auf diese Art zusammenrollen.
Ich zog es heraus.
Es war ein Röhrchen aus Karton – weißem Karton, eng zusammengerollt, ungefähr fünf Zentimeter lang, in der Mitte geknickt, mit feuchten Fingerabdrücken verschmiert …
Mein Herz rastete aus.
Ich wusste, was es war. Ich hatte das Ding hier in Candys Händen gesehen, als sie die Tränen zurückdrängte und sich bei Iggy entschuldigte. Ich hatte gesehen, wie sie es zusammenrollte, wieder auseinander rollte, knüllte, faltete … und dann, nur ein paar Minuten später, hatte ich gespürt, wie sie es mir in die Tasche schob: Ihre Hand hatte meinen Oberschenkel gestreift, als sie sich herüberbeugte und nach meinem Stuhl fasste, während Iggy auf mich zukam.
Ich wusste, was es war.
Es lag in meinen Händen.
Ein feuchter, schmuddeliger Edelstein.
Ich setzte mich aufs Bett und faltete das Teil behutsam auseinander, schließlich entrollte ich es und brachte die zerknickten Reste einer schlichten Visitenkarte zum Vorschein.
CANDY
stand darauf, in sauberen schwarzen Lettern. Kein weiteres Wort, keine Nachricht, kein Detail, einfach nur
CANDY
– und darunter eine Handynummer.
|66| 4. Kapitel
F ast hätte ich sie auf der Stelle angerufen. Ich sehe mich immer noch dasitzen – um halb drei Uhr morgens, halb nackt auf der Bettkante hockend, das Handy in der Hand, der Finger über den Tasten schwebend, dazu eine innere Stimme, die mir sagt:
Mach schon, drück die Tasten, ruf sie sofort an …
Aber dann dachte ich drüber nach:
Was sollst du sagen? Was ist, wenn sie schläft? Was, wenn Iggy am Apparat ist?
Und damit war alles vorbei. Der Moment war vorüber. Ich versuchte ihn zurückzuholen, aber das hier war etwas, das man ohne Zögern und ohne Nachdenken tun muss – wenn du erst mal anfängst nachzudenken, ist alles zu spät. Es führt kein Weg zurück.
Ich saß noch eine Weile da und starrte das Telefon in meiner Hand an, doch ich wusste, dass ich die Chance verpasst hatte.
Ist in Ordnung
, sagte ich mir.
Du kannst sie ja morgen anrufen. Bis dahin kommst du dann auch besser klar mit der Situation. Du hast Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Und wenn nicht morgen, dann gibt es immer noch den nächsten Tag oder den Tag darauf oder den Tag nach diesem Tag …
Es eilt ja nicht, oder?
Du musst in der richtigen Stimmung sein …
|67| Ich brauchte mehr als eine Woche, bis ich kapierte, dass es keine richtige Stimmung dafür gab, dass schon das Suchen nach dieser Stimmung die absolute Zeitverschwendung war und dass ich nur eines sofort hätte tun sollen – ganz einfach diese verdammte Nummer anrufen.
Die Woche verging in einem seltsamen Gefühl von Zeitlosigkeit. Die Tage schienen ewig zu dauern, mit sich in die Länge dehnenden Vormittagen, endlosen Nachmittagen und nicht enden wollenden Abenden. Gleichzeitig schien der vorherige Tag, wenn ich am nächsten auf ihn zurückblickte, so schnell vorbeigegangen zu sein, dass ich kaum glaubte, ihn erlebt zu haben. Wobei der nächste Tag wiederum Jahrhunderte weit entfernt wirkte.
Ich verstand das nicht und bezweifle auch, ob ich das wirklich wollte. Auch ohne dass ich mir über die Launen der Zeit Gedanken machte, gab es genügend Dinge, die mir im Kopf rumschwirrten. Das Einzige, was ich wirklich wollte, war, mit meinem Leben klarzukommen, ohne wegen Candy allzu sehr durcheinander zu geraten.
Nicht dass es viel zum Klarkommen gab.
Schule …
Die
Katies
…
Schule …
Dad …
Wir sahen wie üblich nicht viel voneinander. Er verschwand morgens recht früh zur Arbeit, und wenn ich aus der Schule kam, war er gewöhnlich in seinem Arbeitszimmer, schrieb Berichte und beantwortete Briefe, klackerte auf der
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