Candy
leer.
Kalt wie Glas.
Ich konnte keinen Gedanken fassen.
Sobald ich im Auto saß, hatte ich versucht, Candy auf dem Handy anzurufen, aber der Anschluss war tot. Kein Ton, keine Mailbox, kein Garnichts. Ich wusste nicht, was das bedeutete. Ich wusste nicht, was überhaupt irgendetwas bedeutete. Ich war zerrissen in zu viele Richtungen auf einmal. Zu viele Hochs, zu viele Tiefs, zu viele Gefühle … und ich konnte keinem einzigen eine Stimme geben. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
Aber Gina wusste es.
»Ich glaube, es ist Zeit, dass wir miteinander reden«, sagte sie, drehte sich auf dem Beifahrersitz um und sah mich an.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte ich.
»Komm schon, Joe … der ganze Kram mit diesem, wie heißt er noch, euer Sänger – was sollte das alles? Warum musst du so viel mit mir bereden? Hat es was mit der Schlägerei zu tun?«
»Ich glaub schon.«
»Du
glaubst
?«
»Das ist schwer zu erklären … weißt du, ich will ja nichts verheimlichen, es ist nur … also, ich hab keine Ahnung, was passiert ist mit dir und Mike … und dem Mädchen.« Ich schaute fest in Ginas Augen. »Aber ich muss wissen, was los war.«
Sie erwiderte den Blick, überlegte und schaute dann hinüber zu Mike. Ohne den Kopf zu wenden, sagte er: »Erzähl’s ihm.«
Sie erzählte es mir.
|160| »Es war bei dem letzten Song«, sagte sie, »dem, den du gesungen hast. Ich hab dir zugesehen, dir zugehört … ich konnte nicht fassen, wie gut du warst, Joe. Es war fantastisch.
Du
warst fantastisch. Ich konnte den Blick nicht mehr von dir wenden.«
»Ja«, stimmte Mike zu. »Es war echt gut.«
»Danke«, sagte ich.
Gina nickte. »Wie auch immer, ich hab dir also zugesehen und gleichzeitig auch die Menge beobachtet. Sie waren alle total dabei. Besonders das Mädchen ganz vorn … das du immer wieder angeschaut hast.« Sie machte eine Pause und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Als ich es nicht tat, fuhr sie fort: »Zuerst dachte ich, es sei einfach irgendein Mädchen … du weißt schon, ein hübsches Mädchen, das dir in der Menge aufgefallen ist … Aber dann fiel mir auf, dass ich sie schon vorher gesehen hatte.«
»Wo?«, fragte ich.
»Auf der Toilette. Ungefähr fünf Minuten vor dem letzten Song.« Sie sah mich vorsichtig an, mit einem zögernden Blick, als sei sie unsicher, was sie sagen sollte. »Ist sie … ich meine,
kennst
du sie?«
»Was hat sie gemacht?«
Gina antwortete nicht sofort. Sie senkte die Augen, doch als Mike ihr einen kurzen Blick zuwarf, sah sie wieder auf und fuhr fort: »Ich wollte in eine Kabine … ich dachte, sie wär frei … war sie aber nicht. Das Schloss war aufgebrochen. Drinnen war … das Mädchen … es hockte auf dem Sitz und rauchte Heroin …«
»Heroin?«
Gina nickte.
Ich sagte: »Bist du sicher?«
»Absolut. Sie hatte einen Streifen Alufolie und …«
|161| »Sie hat es
geraucht
?«
»Durch einen Plastikstrohhalm.«
»Ich dachte, man muss es spritzen.«
Mike sagte: »Du kannst damit tun, was du willst – rauchen, schnupfen, schlucken … egal.«
Ich weiß nicht, wieso ich schockiert war, ehrlich. Ich wusste, dass Candy Drogen nahm, und irgendwie hatte ich schon geahnt, dass es Heroin sein musste. Aber anscheinend hatte ich beschlossen, es zu ignorieren, so zu tun, als würde es keine große Rolle spielen. Oder vielleicht war es einfach nicht bei mir angekommen …
Aber jetzt kam es an.
In seiner ganzen schmutzig kalten Realität.
Und es traf mich hart.
»Joe?«, fragte Gina. »Ist alles in Ordnung?«
Ich sah auf, noch immer gequält von der Vorstellung, wie Candy in einer Toilettenkabine hockte und durch einen Plastikstrohhalm Heroin rauchte.
»Wer ist sie?«, fragte Gina sanft. »Ist sie –?«
»Was ist dann passiert?«, fragte ich. »Nachdem du sie gesehen hattest?«
Gina zögerte wieder. Dann sagte sie: »Nichts … ich hab mich entschuldigt und hab sie weitermachen lassen. Es schien sie nicht zu stören. Sie saß nur da und lächelte. Ich fand eine andere Kabine, danach ging ich zurück zu Mike. Dann, fünf Minuten später, sah ich sie wieder, wie sie direkt vor dir tanzte.«
Ich erinnerte mich daran, wie Candy aussah – allein tanzend, mit geschlossenen Augen, sich wie in Trance bewegend, selbstvergessen wie ein Kind.
|162| Ich schaute aus dem Wagenfenster. Wir fuhren jetzt aus London raus, rasten durch die orange erleuchtete Dunkelheit, auf dem Weg zurück nach Essex. Der Regen
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