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Candy

Candy

Titel: Candy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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Ich stellte mir vor, wie seine riesigen Hände die Flaschen und Döschen zu Boden schleuderten, seine leeren Augen suchten   … ohne Gefühl, ohne Herz, ohne irgendwas außer sich selbst. Ich konnte ihn sehen. Als ich die Badezimmerwand anstarrte, unfähig zu atmen, sah ich ihn. Seinen schweren Kopf, sein kurz rasiertes Haar, sein Totenmaskengesicht   …
    |227| »Bist du tot oder was, Mädchen?«
    »Wie   …? Ich   –«
    »Willst du den ganzen Tag nur rumliegen?«
    »Ich wollt gerade   –«
    »Beweg deinen Arsch   … mach schon – räum diese Scheiße auf, verdammt!« Eine wütende Faust knallte auf den Tisch. »Hast du mich
verstanden

    Ich hörte, wie Candy aufstand. Dann Stille. Dann wieder Iggys Stimme, hart und tief: »Komm her.«
    Nackte Füße bewegten sich zögernd über den Boden.
    Stille.
    Iggy schniefte, dann sprach er wieder, mit einer Stimme, die nach einem geschliffenen Knurren klang. »Auf was wartest du?«
    »Was soll ich tun?«
    »Ich hab’s dir doch gerade
gesagt
– räum diese Scheiße auf.«
    »Wie – jetzt?«
    »Mach’s einfach.«
    Ich hörte, wie Dinge verschoben wurden – Flaschen, Döschen, Stücke Papier   …
    »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit«, sagte Iggy.
    »Mein Handgelenk tut weh.«
    »Dein was?«
    »Nichts.«
    »Hast du’n Problem?«
    »Nein, ich hab nur   –«
    »Los, gib mir deine Hand, zeig her.«
    »Nein, ist schon in Ordnung.«
    »Gib mir deine
Hand

    Erschrockene Stille.
    |228| Dann: »Wo tut’s weh? Da?«
    Candy schrie auf.
    Iggy lachte.
    »Bitte   … nicht«, bettelte Candy. »Ich hab nichts gesagt.«
    Als sie wieder schrie, versenkte ich meine Fingernägel in der Handfläche und versuchte mich von ihrem Schmerz zu befreien. Es funktionierte nicht. Ihr Schmerz war überall. Ich spürte ihn rings um mich her – in der kalten Badezimmerluft, in meinem kranken Magen, in meinen wehen Knochen   … und das Schlimmste war, dass ich
nichts
dagegen tun konnte   … gerade wegen Candy. Sie hatte mir gesagt, ich solle bleiben, wo ich war –
egal
was geschah. Um ihretwillen. Aber das konnte ich doch nicht tun, oder? Wie sollte ich das fertig bringen? Wie konnte ich rumstehen und der kaltblütigen Widerwärtigkeit nebenan zuhören – den Geräuschen ihres Leidens, ihrem erstickten Gewimmer, seinem höhnischen Lachen   …?
    Wie konnte ich all dem zuhören?
    Unmöglich.
    Aber ich konnte mich auch nicht rühren. Mein Rücken war an der Wand festgeklebt, meine Füße auf dem Boden angenagelt. Ich hatte zu viel Angst, um mich zu rühren. Es machte mich krank   … ich machte mich krank. So ängstlich, so klein, so nutzlos   …
    Dann klingelte mein Handy.
    Als der stechende Klingelton laut durch das Bad hallte, noch verstärkt von der weiß gefliesten Leere, riss ich das Handy aus der Tasche und – unglaublich, aber wahr – checkte den Anrufer. Als ich das Display überflog –
GINA
–, schrie mein Verstand mich schon an:
Was tust du? Schalt es ab, schalt es ab, SCHALT ES AB!
Ich drückte die
Beenden -Taste
und der Klingelton hörte auf, aber |229| es war viel zu spät. Das Unglück war passiert. Iggy war schon auf dem Weg. Ich hörte seine Stimme – »Was ist das?« – und dann das Geräusch seiner Schritte, die sich dem Bad näherten –
bum, bum, bum
–, und Candys vergebliche Versuche, ihn aufzuhalten – »Nein, Iggy   … Iggy! Es ist nichts   …«
    Es folgte eine kurze Stille, dann – KLATSCH! – und Candy schwieg.
    Und die Schritte gingen wieder los.
    Ich hatte mich immer noch nicht gerührt. Mein Körper war erstarrt, mein Blut in Eis verwandelt. Selbst wenn ich mich hätte rühren können, es gab keinen Ausweg. Nichts, was ich hätte tun können. Das Fenster war verschlossen und von außen vergittert. Es gab nichts, was ich als Waffe hätte benutzen können. Es gab nur einen Weg nach draußen – durch den Perlenvorhang   … und Iggy war fast da.
    Ich hörte auf zu atmen.
    Die Schritte wurden langsamer.
    Meine Augen fixierten den Eingang.
    Eine schwere Hand erschien, teilte die Perlen   …
    Dann ein Kopf   …
    Ein Schädel mit schwarzer Haut.
    Er lachte, grinsende weiße Zähne. »Na bitte   … schau dir das an.«
    Ich zwang mich, ihm in die Augen zu sehen, als er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte und durch die Perlen trat, um sich vor mir aufzubauen – stabil wie ein Fels, muskulös und vernarbt, ein riesiger schwarzer Amboss von einem Mann. Mein Blick sauste herab auf das Rasiermesser, das er locker auf

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