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Candy

Candy

Titel: Candy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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sprach sie mit normaler Stimme weiter und sagte: »Wohin fahren wir, wenn wir in der Liverpool Street angekommen sind?«
    »Ist das wichtig?«
    »Natürlich ist das wichtig.«
    »Für dich, meine ich. Ist es wichtig für dich? Gibt es irgendeinen Ort, wo du besonders gern hinwillst?«
    »Zum Beispiel?«
    »Ich weiß nicht   … zu Freunden oder so   … ins Haus deiner Eltern.«
    »Nach Hause geh ich nicht«, fuhr sie mich an. »Ich bin nicht   … ich
kann
nicht   …«
    »Gut   … was ist mit Freunden? Jemand, bei dem du eine Weile bleiben kannst   …«
    »Meine Freunde hast du eben getroffen – dort im Haus.«
    »Sonst niemand?«
    »Nein, niemand. Was erwartest du? Glaubst du, ich bin jeden Abend irgendwo zum Essen eingeladen? Oder ich geh in Weinbars, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen?«
    |247| »Ja, gut. Entschuldige. Ich hab nur gefragt   …«
    Sie wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Ich sah sie an, mit ihrer kleinen schwarzen Mütze und ihrem verlotterten alten Mantel – sie sah aus, als ob sie älter wirken sollte oder jünger, doch das tat sie nicht. Sie sah einfach anders aus. Ausreichend anders, um das zu sagen, was ich sagen wollte? Keine Ahnung. Ich wusste es nicht   … ich wusste nicht mal so recht, ob ich es überhaupt sagen wollte.
    »Hör mal«, sagte ich, »es gibt da ein Haus   …«
    Sie sah mich an. »Was?«
    »Es ist nur so eine Idee   …« Meine Stimme klang zittrig. Ich räusperte mich und fing noch mal an. »Wir haben dieses Haus in Suffolk   … meine Familie, meine ich. Also, eigentlich gehört es meinem Dad   … verstehst du   …«
    »Nicht wirklich.«
    »Es ist ein Cottage   … so eine Art Ferienhaus   … an der Küste von Suffolk. Zurzeit steht es leer. Es wohnt niemand da. Liegt total in der Pampa   …«
    »Und?«
    »Also, ich hab nur gedacht, es wär vielleicht nicht schlecht, dort hinzufahren. Auf jeden Fall ist es dort sicher. Iggy wird uns da niemals finden. Und es ist schön und ruhig, echt friedlich   …« Ich sah sie an, um herauszubekommen, ob sie verstand, was ich meinte.
    »Ein Cottage?«, sagte sie.
    »Ja   …«
    »Nur du und ich?«
    »Ja   … ich meine, es ist jede Menge Platz dort. Drei Schlafzimmer. Wir brauchten nicht   –«
    »Musst du nicht zur Schule?«
    |248| »Es sind Ferien.«
    »Was ist mit deinem Dad? Was willst du ihm sagen?«
    »Er ist eine Woche verreist. Muss also nichts davon wissen.«
    Eine Weile sagte sie nichts. Ich sah, wie sie drüber nachdachte, sich alles ausmalte, die Konsequenzen erwog, überlegte, was es bedeutete, alles zurückzulassen – ihr Leben, ihre Leute, ihre Drogen. Es war ein Kampf für sie, das sah ich deutlich. Ich hatte keine Ahnung, wie groß dieser Kampf war, aber wenn der Ausdruck ihrer Augen irgendetwas besagte – dann fiel ihr die Entscheidung schwerer, als ich mir überhaupt vorstellen konnte. Es schien, als ob zwei völlig verschiedene Menschen in ihrem Kopf wären und Krieg gegeneinander führten um das, was sie wollten   …
    Sich bis auf den Tod bekriegten.
    »Ist es hier in Ordnung?«, fragte der Taxifahrer über die Schulter.
    Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Wir standen in der Kurve einer belebten kleinen Straße in einem dicht bevölkerten Labyrinth von Bürogebäuden. Überall, wohin ich schaute, nur hoch aufragende Wände   – Marmor und Stein   … schimmernde Flächen von Rauchglasscheiben. Einen Moment war ich verloren, völlig orientierungslos, doch dann sah ich die vertrauten Ecken und Kanten einer rostigen Eisenskulptur und alles klickte plötzlich wieder an seinen Platz.
    Broadgate
, dachte ich.
Das ist der Broadgate-Eingang zum Bahnhof Liverpool Street.
    »Ist es hier recht?«, fragte der Fahrer wieder.
    »Ja«, sagte ich und schaute Candy kurz an. »Ja, das ist gut, danke.«
    Der Fahrer sagte: »Macht dann elf fünfzig.«
    |249| Ich fing an, meine Taschen abzutasten auf der Suche nach Geld, aber ohne Erfolg. Ich sah Candy an. Sie streckte ihr Bein aus, schob ihre Hand in die Tasche und zog ein Bündel Scheine heraus. Sie nahm zwei Zehner und reichte sie durch zum Fahrer.
    »Behalten Sie den Rest.«
    Ohne mich anzusehen, nahm sie ihre Tasche, öffnete die Tür und trat auf den Bürgersteig. Die Wippe bewegte sich wieder. Nach oben   … nach unten. Ich folgte ihr hinaus, stolperte fast über die Bordsteinkante und schloss die Tür. Das Taxi fuhr weg und ließ uns beide – auf unserer albernen Wippe – in einem drängenden Fußgängerstrom

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