Cantucci-Herzen brechen nicht: Roman (German Edition)
das er an die kühle feuchte Luft herausholte, Daniels Kind sein könnte. Aber es war ein Mädchen: eine Tatsache, die an dem rosa Band zu erkennen war, das um den sonst geschlechtsneutralen dicken kahlen Kopf gewickelt war. Als die Kleine herausgenommen wurde, brüllte sie zornig auf und kickte wütend mit den stämmigen Beinen unter dem weißen Rüschenkleid. Sie warf heftig den Kopf von einer Seite zur anderen, mit verschrumpeltem Gesicht wie eine große rote Rosine, und brüllte wie am Spieß. Aber der junge Mann brauchte sie nur in der Luft zu wackeln und ein paar tröstende Laute von sich zu geben, und schon verstummte das Gebrüll, und die plumpen, in der Luft boxenden Fäuste sanken plötzlich zufrieden an die Seiten. Innerhalb von wenigen Momenten gluckste und lachte sie, während der junge Mann sie hochhob und wieder herunter und mit ihr in einem Singsang redete.
Lily konnte die Augen nicht losreißen. Täte sie das, dachte sie, würde sie zu einem Haufen nasser Kieselsteine zerbröseln und weggeschwemmt werden von dem sintflutartigen Wolkenbruch. Warum waren ihr diese kostbaren Wesen versagt geblieben? Was hatte sie falsch gemacht? Wo war die Gerechtigkeit?
Die beiden Männer scherzten miteinander, und der jüngere drückte der Kleinen einen Kuss auf die Stirn, was sie wieder zum Kreischen brachte – dieses Mal vor Freude.
Er hatte so mühelos ihre Verzweiflung in Freude verwandelt. Lily fragte sich, ob er wusste, was für eine Gabe das war.
Daniel dagegen war immer ein bisschen ungeschickt mit Kindern gewesen. Er hielt sie steif im Arm und wusste dann nicht, was er tun oder sagen sollte. Es war wirklich eigenartig, weil er stets beteuert hatte, dass er sich genauso sehr Kinder wünschte wie sie. Sie hatte angenommen, dass er mit seinen eigenen Kindern anders umgehen würde, aber während der sechs Tage und siebzehn Stunden, in denen sie die kleine Grace hatten – Lily gestattete sich, nur an diesen kostbaren Namen zu denken – hatte er nach wie vor nicht unbedingt widerwillig gewirkt, nicht einmal unsicher, eingeschüchtert vielleicht. Sie fragte sich, wie ihr Mann mit seinen italienischen Kindern umging, ob er jemals den Dreh herausbekommen hatte, ob es praktisch von selbst gekommen war, diese Sache, für die sie weniger als eine Woche Zeit hatte, um ein Gespür dafür zu entwickeln.
Lily verdrängte das Thema, die Gedanken, weil sie vermeiden wollte, dass sich ihre bereits morschen Knochen versteiften.
Auf der anderen Seite des Unterstands wurde das Baby zurück in den Kinderwagen gelegt, der Schirm wieder angebracht, und nachdem der junge Mann geholfen hatte, das Gefährt abermals auf die Straße zu setzen, führte die gefährliche Reise weiter den Berg hoch in die entgegengesetzte Richtung zu jener, in der Lilys Hotel auf der Karte markiert war.
Der junge Mann sah den beiden eine Weile hinterher, während er sich unter dem schützenden Dach herauslehnte, bevor sein Blick zu Lily wanderte.
»Buon giorno, Signora!«, rief er und deutete mit einem Nicken auf den Regen. »Piove a catinelle, no?«
»Tut mir leid«, erwiderte sie. »Ich spreche kein Italienisch.«
»Ah, sorry. Turista?«
»Nein«, antwortete Lily. »Ich meine, ja. Sì. Turista.« Das Violinenspiel hatte aufgehört. Sie fror und sehnte sich verzweifelt nach einer Dusche und trockenen Kleidern. Der Regen ließ nicht nach. Sie würde ihm trotzen müssen, um zu ihrem Hotel zu kommen. Sie begann, ihr Gepäck aufzusammeln.
»Alberto«, sagte der junge Mann und kam auf sie zu mit ausgestreckter Hand. »Darf ich Ihnen vielleicht einen Wein in meinem Laden anbieten?«
Er hatte kurzes, stacheliges, dunkles Haar, dieser Alberto, und einen jungenhaften Charme, der seinen Reiz hatte, genau wie sein Angebot mit dem Wein, aber das Ziehen in ihren Eingeweiden, das durch das Babygeschrei ausgelöst worden war, ließ nicht nach. Sie wollte alleine sein, irgendwo, wo es dunkel und still war.
»Vielleicht ein anderes Mal.« Sie lächelte höflich.
»Sind Sie sicher? Es sieht aus, als würde der Regen noch eine Weile anhalten … Ich wollte gerade Mittag machen. Ich habe Brot und Prosciutto und Tomaten aus dem Garten meiner Großmutter. Sie hat sie erst vorhin frisch gepflückt und gesagt, ich soll sie teilen mit der ersten hübschen blonden Frau, die ich sehe. Dann schaue ich aus dem Fenster, und da sind Sie. Klingt nach Schicksal, no ?«
»Nein, für mich nicht«, erwiderte Lily energischer als beabsichtigt. »Tut mir leid, aber ich bin
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