Cantucci-Herzen brechen nicht: Roman (German Edition)
aufgebracht sein. Aber das war sie nicht. Lily kannte Wut nur zu gut, dank ihrer Mutter. Wut ging einher mit Prügeln und Schlägen, mit Schreien und Brüllen, mit scharfen Gegenständen, die nach ungeschützten Kinderköpfen geworfen wurden, mit schrecklichen Androhungen, Kraftausdrücken und äußerster, unkontrollierbarer, lautstarker Raserei.
Lily spürte etwas, etwas Großes – schließlich war sie in Montevedova –, aber es war nicht laut und explosiv wie bei ihrer Mutter. Es war komplizierter, wie ein Juckreiz von der Sorte, die einen in den Wahnsinn treiben konnte, oder wie ein derart tiefer Schmerz, dass die Ursache dafür unergründlich war.
Vor dem Spiegel suchte sie in ihrem Gesicht nach äußerlichen Anzeichen für eine Krise, fand dort aber auch keine Wut, höchstens eine kleine Anspannung um die Augen herum und einen leicht hochmütigen Ausdruck.
Früher einmal hatte Lily sich vielleicht nicht gerade als schön betrachtet – wer würde das schon von sich behaupten? –, aber als ansprechend. Sie musste sich eingestehen, dass das Gesamtpaket nach wie vor positiv war: die blonden Haare, die ausgeprägten Wangenknochen, die glatte Haut für eine Frau ihres Alters, der schlanke Körper, für den sie sich so abrackerte, damit er schlank blieb.
Sie hörte auf, sich abzutrocknen, und betrachtete diesen Körper: die Lücke zwischen den Innenseiten ihrer festen Oberschenkel, ihre spitzen Hüften, ihre Rippen, ihre kleinen, aber handlichen, kecken Brüste, ihre Schlüsselbeine, ihre eckigen Schultern.
Er war schmal, ihr Körper. Sie hatte ihn schmal gemacht. Sie hielt ihn schmal. Ihren Körperumfang konnte Lily kontrollieren und tat es mit einer Hingabe, mit der sich nur Berufssportler und Schauspielerinnen messen konnten.
Das war ihr zusehends wichtiger geworden im Laufe der Zeit. Denn mit jedem babylosen Jahr, das verstrich, wurde Lily daran erinnert, dass diese erbärmliche Ansammlung von Fleisch und Knochen einen eigenen Kopf hatte, wenn es um die Sache ging, die sie, ihr Herz und ihre Seele, sich am sehnlichsten wünschte.
Kein Spezialist konnte ihr genau sagen, warum sie kein Kind austragen konnte.
Sie hatte natürlich die üblichen Experten konsultiert, sogar einen Psychiater für den Fall, dass es ein geheimes seelisches Problem gab, das ihre Pläne, Mutter zu werden, sabotierte. Aber Fehlanzeige, diesen Test hatte sie mit Glanz und Gloria bestanden. Sie war bei Naturheilkundlern gewesen, bei Homöopathen, Akupunkteuren, Kräuterhexen, Reflexzonenmasseuren, Reiki-Praktizierenden, Iridologen, sie hatte sogar ihre Haare untersuchen lassen – von einem seltsam riechenden Mann mit einem Bart bis zum Bauchnabel –, um herauszufinden, ob sie vielleicht ein schreckliches Geheimnis bargen. Taten sie nicht.
Sie hatte alles getan, was sie tun konnte, um ihren Körper auf die kostbare Mutterrolle vorzubereiten. Sie verzichtete auf Alkohol, auf Kaffee, Limonade, Meeresfrüchte und Käse. Sie schraubte ihren Bedarf an Omega-3-Fettsäuren und Ballaststoffen hoch und nahm Folsäure, Selen und Zink als Nahrungsergänzungsmittel. Aber ihr Körper ließ sie im Stich. Und nun, um es ihm heimzuzahlen, bestrafte sie ihn, indem sie ihn auf Kleidergröße 36 trimmte. So viel Engagement, und dann endete sie schließlich als Kleiderständer.
Trotzdem besaß Lily eine gute Garderobe, wie sie zugeben musste, als sie die weiße Caprihose anzog und ein roséfarbenes Oberteil mit U-Boot-Ausschnitt. Anschließend griff sie nach ihrer Handtasche und machte sich auf den Weg nach unten. Sie dachte über ihre Dummheit nach, ein Zimmer zu mieten, das zwangsläufig durch fremde Räumlichkeiten führte, wenn man es verließ. Sicher würde es viele peinliche Begegnungen mit Violetta und ihrer drolligen kleinen Doppelgängerin geben.
In der Tat, Lily hörte die beiden Schwestern miteinander zwitschern, als sie die Treppe herunterkam, obwohl sie sofort verstummten, als sie sie beim Eintritt in der Küche bemerkten – aber nur kurz.
»Mia sorella, Luciana«, sagte Violetta und schob ihre Schwester auf den Gast zu. »Luciana. Luciana. Luciana.«
»Luciana? Oh, guten Morgen«, sagte Lily. »Und auch Ihnen einen guten Morgen, Violetta.«
Der lange Tisch und ein Großteil des Küchenbodens waren bedeckt mit Mehl. Hätte Lily nicht gewusst, dass draußen bestes Wetter herrschte, hätte sie vielleicht gedacht, es hätte geschneit. Im Haus. Violetta hatte so viel Mehl im Gesicht, dass sie aussah wie eine verschrumpelte alte Geisha,
Weitere Kostenlose Bücher