Capitol
daß sie sich zu dieser hohen Somec-Ebene und zu ewigem Leben entschloß. An jenem Tage hatte sie ihre ersten Falten entdeckt und war zu der Erkenntnis gelangt, daß auch sie schließlich altern würde. So hatte sie beschlossen, durch die Zeiten zu fliegen und gerade oft genug aufzuwachen, um zu sehen, ob es etwas gab, das sich zu erfahren oder zu leben lohnte.
Heute hatte sie es gefunden.
Und was, überlegte sie, werden wir morgen tun?
Kinder töten
Oh, die Seele, die Seele hat Abgründe und Höhen; steil herabstürzende Felshänge, schrecklich und von keinem Menschen ermessen. Mag sie geringachten, wer nie dort hing.
– Gerard Manley Hopkins
Er hörte das Klicken der Tür, die sich öffnete, aber er wandte sich nicht von dem großen Stapel aus weichen Plastikblöcken ab, den er gerade baute. Statt dessen suchte er unter den auf dem warmen Fußboden verstreuten Blöcken einen orangefarbenen. Den brauchte er unbedingt, um sein Werk fertigzustellen.
»Link?« sagte eine nur allzu vertraute Stimme hinter ihm, eine seltsame, vertraute Stimme, die als einzige unter allen Stimmen seine erschrockene Aufmerksamkeit erregen konnte. Ich habe sie umgebracht, dachte er. Sie ist tot.
Aber er drehte sich langsam um, und da stand tatsächlich seine Mutter leibhaftig vor ihm, mit ihrem schlanken wunderschönen Körper (Nicht fünfundvierzig! Sie konnte keine fünfundvierzig sein!), der makellosen Kleidung und mit Entsetzen in den Augen.
»Link?« fragte sie.
»Hallo, Mutter«, sagte er verstört, mit tiefer Stimme und sehr langsam. Ich spreche wie ein geistiger Krüppel, stellte er fest. Aber er wiederholte die Worte nicht. Er lächelte sie nur an (das Licht ließ ihr Haar wie einen Heiligenschein aussehen, das Gewebe ihrer Bluse lag eng auf den Rundungen ihrer Brüste, nein, das darf ich nicht bemerken, ich muß statt dessen an Mutterschaft und Sohnesliebe denken. Warum ist sie nicht tot? War das, so Gott will, nur ein Traum, und ist dies die Wirklichkeit? Oder ist selbst daß ich hier bin eine Vision?), und eine oder zwei Tränen glänzten in seinen Augen, so daß er nicht gut sehen konnte, und durch diese Sichttrübung glaubte er einen Augenblick, sie hätte braunes Haar; aber sie war immer blond gewesen –
Sie sah die Tränen und ignorierte den immer noch erkennbaren Wahnsinn in seinem flackernden Blick. Nur eine Sekunde lang streckte sie die Arme aus und stemmte sie dann in die Hüften (sieh nur, wie bei ihr zwischen Hüften und Unterleib Vertiefungen liegen, die nach unten weisen, sagte sich Link). Sie sah ihn wütend und gekränkt an und sagte: »Was, bekomme ich nicht einmal eine Umarmung von meinem Jungen?«
Diese Worte waren die Beschwörungsformel, die nötig war, damit sich Link vom Fußboden zu seinen vollen hundertneunzig Zentimetern Länge aufrichtete. Er ging zu ihr und streckte seine langen Arme nach ihr aus –
»Nein –« gluckste sie und stieß ihn von sich. »Nicht so – nur ein kleiner Kuß. Nur ein Kuß.«
Sie spitzte die Lippen zu einem kindlichen Kuß, und auch er spitzte die Lippen und beugte sich hinab. Aber im letzten Augenblick wandte sie den Kopf ab, und er küßte sie ungeschickt auf Ohr und Haare.
»Oh, wie naß«, sagte sie mit Ekel in der Stimme. Sie griff in ihre Handtasche, holte ein Tuch heraus und wischte sich das Ohr ab, wobei sie leise lachte. »Wie ungeschickt, Link. Du warst schon immer ein ungeschickter Junge …«
Link stand unentschlossen da, und wie schon so oft überlegte er, was er als nächstes tun könne, ohne sich einen Vorwurf einzuhandeln. Er blieb noch länger so stehen und wußte, daß es etwas gab, das er tun, zu dem er sich entschließen mußte, aber statt dessen entschloß er sich zu gar nichts und spulte mit kindlicher Stimme immer wieder den gleichen Gedankengang ab: »Mami verrückt, Mami verrückt, Mami verrückt.«
Sie musterte ihn, und ihr Mund formte sich halb zu einem Lächeln (sieh nur den natürlichen Glanz ihrer Lippen, die sie nie schminkte, nie schminken mußte, Lippen, die immer ein wenig feucht und halb geöffnet waren, und zwischen denen die Zunge in zärtlichem Liebesspiel über die Zähne strich), und sie wußte nicht recht was geschah.
»Link?« sagte sie. »Link, hast du nicht einmal ein Lächeln für deine Mutter übrig?«
Und Link versuchte sich daran zu erinnern, wie man lächelt. Was für ein Gefühl war das noch? Man mußte gewisse Muskeln betätigen, und das Gesicht fühlte sich dann straff an –
»Nein!« kreischte
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