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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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wieder. Er begann, sich zu kringeln, und ich musste kichern. Der Mann im Garten, Fred und Igor, die Stimmen über mir, alles war mir jetzt egal.
    »Ich sagte: hör auf!«
    »Komm jetzt. Zeig mal da.«
    »Tut weh.«
    »Muss weh tun.«
    Der Molch zappelte, mein Oberkörper bäumte sich auf, ich prustete und lachte. Ich dachte an den Keim. Er gehörte mir, egal, wie er in mich gekommen war. Ich konnte mit ihm anstellen, was ich wollte. Und während ich mir vorzustellen versuchte, was das sein könnte, musste ich an Fred denken. Ja, ich würde wie er sein. Wutanfälle, Boxkämpfe, Pöbeleien, der ganze Kram. Ich würde nicht mehr komisch sein, sondern so wie Fred, und Fred war normal.
    »Nicht so!«
    »Wie denn? Fester?«
    »Nein, gar nicht!«
    »Jetzt, wo wir schon hier sind.«
    »Lass mich in Ruhe! Lass mich!«
    Ein Kreischen hob an. Der Molch zappelte. Ich zappelte auch. Das Kreischen wurde lauter.
    »Nein!«
    »Doch!«
    »Hör auf! Das tut weh.«
    »Richtig so.«
    Das Kreischen über mir begann auf- und abzuschwellen, es wurden zwei daraus, ein gellendes und ein röhrendes, die jetzt abwechselnd lauter wurden, ich wollte nicht hinhören, doch es war, als ob das Kreischen aus meinem eigenen Kopf käme, und mein ganzer Körper begann sich zu schütteln, ich konnte nichts dagegen tun, und jetzt hörte ich ein Klatschen, Fleisch auf Fleisch, dann wieder das Kreischen, zweistimmig, und ich wand und krümmte mich weiter und meinem Mund entfuhr ein Grunzen, dann schloss ich die Augen und hörte eine Explosion, die alles erschüttern ließ, sah zugleich einen Rauchpilz, er wurde immer größer, bis er alles übertünchte, die Bilder, die Gerüche, und schließlich auch die Geräusche, und dann war alles in mir still. Und ich lag nur noch da, wie tot.
    Ich hatte den Kammmolch komplett vergessen, als ich mich endlich erhob und vergeblich nach den Stimmen lauschte. Auch als ich ins Wasser stieg und einen zweiten Ausgang aus der Grotte fand, die Leiter über meinem Kopf entdeckte, an ihrem Ende einen gusseisernen Deckel anhob und die Augen zukniff. Als ich hinter Gebüschen und parkierten Autos durchs Dorf flitzte und ins Haus schlich, in mein Zimmer hochstieg, eiligst eine Jeans und ein T-Shirt aus dem Kleiderschrank holte. Ich hatte keine Sekunde an ihn gedacht. Erst später, als das Fieber kam, mitten in der Nacht. Da fiel er mir ein. Ölig und weich. Schwarz und geriffelt sein Kamm.
    Tagelang lag ich in meinem Zimmer. Das Fieber klang bald ab, doch ich wollte das Bett nicht mehr verlassen. Immer wieder betrachtete ich das kolorierte Insektenplakat über mir, bis die Tiere zu glühen und sich zu bewegen begannen. Dann streckte ich die Hand aus und klaubte mir ein Exemplar aus dem Plakat. Es kletterte von der Handmuschel auf den Handrücken und weiter den Arm hoch. Ich schaute ihm eine Weile zu und setzte es zurück an seinen Platz.
    Alle paar Stunden kam Mutter und hielt die Hand an meine Stirn. Dann streichelte sie mir die Wange, und ich tauchte wieder unter die Decke. Zu den verlorenen Kleidern und Schuhen sagte sie nichts. Der Mann vom Garten tauchte nicht auf. Dafür standen Igor und Fred täglich vor der Tür. Wenn Mutter unten die Tür öffnete, zog ich oben die Vorhänge einen Spalt weit auf. Ich sah, wie die beiden nickten, während Mutter redete, sah ihre Enttäuschung. Die Tür schloss sich, Fred boxte Igor in den Oberarm, sie drehten sich um und gingen. Ich kroch zurück unter die Decke. Ich wollte nie mehr hinaus.
    Eine Katze heult in der dunklen Nacht. Ich knipse die Nachttischlampe an und greife zu Band 4 der Großen Naturenzyklopädie von Bertelsmann. Er ist meine nächtliche Lektüre, wenn ich nicht mehr schlafen kann. Zwei komplette Bände der Enzyklopädie handeln von den Gliederfüßern. Insekten, Käfer, Spinnen. Sie existieren seit mehr als 500 Millionen Jahren. Die meisten Menschen mögen diese Tiere nicht, dabei sind sie extrem sensibel, nehmen alles wahr, was um sie herum geschieht.
    Während ich im Buch blättere, höre ich wieder das Schreien vom Schacht. Ich lege mich auf die Seite, drücke das Kissen auf den Kopf und blättere weiter, aber das Schreien hört nicht auf. Ich denke an die Mädchen in unserer Schule. Sie schreien auf dem Pausenplatz, auf dem Schulweg, in der Turnstunde. Ich weiß nicht, was ihr Schreien bedeuten soll. Bedeutet es überhaupt etwas? Renate ist die Einzige, die nie auf dem Pausenplatz oder auf dem Schulweg oder in der Turnstunde schreit. Bedeutet das auch etwas?
    Ich

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