Caras Schatten
einer einzelnen Laterne am anderen Ende der Straße. Cara bildete sich ein, das Echo ihrer Schritte zu hören, das von den Fassaden der Häuser zurückgeworfen wurde.
Ethan schwieg. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Cara fragte sich, ob er wohl wütend war. Auf sie? Oder wegen der ganzen Situation? Schließlich konnte sie das Schweigen nicht länger ertragen.
»Ethan …« In der Stille der Nacht klang ihre Stimme dünn und zittrig. Sie stellte fest, dass sie Ethan noch nie mit seinem Namen angeredet hatte. Es war ein ungewohntes Gefühl auf ihrer Zunge. Sie verstummte. Sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes sagen sollte.
»Cara, es tut mir leid«, erwiderte Ethan. »Das Ganze ist meine Schuld.«
»Was?«, fragte sie. »Wieso ist es deine Schuld?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wie sie sich immer mehr betrunken hat. Ich hätte sie nach Hause bringen sollen.« Er hielt inne. »Aber ich bin es leid, ständig ihre Launen ertragen zu müssen – vor allem in letzter Zeit.« Er warf Cara einen Blick zu. »Ich komme mir vor wie ein Arschloch, wenn ich das sage.«
»Überhaupt nicht!«, beruhigte sie ihn. »Es muss hart sein, sich in so einer Situation um jemanden zu kümmern.« Sie blickte im Gehen zu ihm auf. Sein Profil zeichnete sich im Mondschein deutlich ab. Ein eisiger Wind fuhr Cara durchs Haar und ließ sie unwillkürlich erzittern. Ethan blickte zu ihr herab.
»Ist dir kalt?«
Sie schüttelte den Kopf, aber er holte dennoch ein Paar dicke Fleecehandschuhe aus seiner Tasche und reichte sie ihr. Cara zog sie dankbar an. Sie waren ihr viel zu groß, aber dafür warm. Sie widerstand dem Drang, sich damit über die Wangen zu streichen.
»Ja, Alexis kann manchmal ziemlich schwierig sein.« Ein ironisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ist dir vielleicht schon aufgefallen.«
Cara kicherte. »Das eine oder andere Mal.«
Sie gingen einen Moment lang schweigend nebeneinander her, aber die Stille war jetzt nicht mehr unangenehm.
»Kann ich dir mal was erzählen?«, fragte Cara nach einer Minute.
Ethan nickte. Seine Augen wirkten ruhig.
Cara atmete tief ein. »Es gibt da eine Sache, die mir schon ’ne Weile durch den Kopf geht.« Sie schwieg. Ethan wartete ab. »Es geht darum, ähm … Meine Mutter hat mir erzählt, dass Sydneys Tod vielleicht … kein Unfall war.« Sie spürte, wie die Last des Geheimnisses von ihr abfiel, als sie es laut aussprach.
Ethan runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
Cara schüttelte den Kopf. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Meinst du, es hätte sie jemand reingestoßen oder so was?« Ethan blieb stehen.
»Ich weiß nicht!« Ihre Stimme klang lauter als beabsichtigt. Sie senkte ihre Stimme. »Im Ernst. Es macht mich total wahnsinnig, wenn ich mir vorstelle, dass Sydney sich vielleicht das Leben genommen hat oder womöglich sogar ein anderer daran beteiligt war …« Sie hatte den Gedanken noch nie zu Ende gedacht, aber jetzt, da sie ihn laut aussprach, kam ihr die Möglichkeit durchaus plausibel vor. Konnte es sein, das jemand Sydneys Tod gewollt hatte?
Ethan legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie leicht. »Hey. Mach dir mal keinen Kopf.« Er ließ den Arm wieder sinken. »Vermutlich wollen sie einfach nur besonders gründlich sein.«
»Ja.« Cara konzentrierte sich darauf, wie es sich angefühlt hatte, von Ethan umarmt zu werden. Sie ließ sich von dem Gefühl trösten.
Sie kamen an einer kleinen »Einkaufsstraße« vorbei, bestehend aus einer Bäckerei, einem Schuster, einem Architekturbüro und einem Zahnarzt, deren Fenster allesamt dunkel waren. Die Polizeistation hingegen war hell erleuchtet. Die Streifenwagen standen vor dem Gebäude aufgereiht wie ein Satz glänzender Munition. Eine ältere Frau mit einem Golden Retriever kam auf sie zu und ging hastig an ihnen vorbei, während der Hund an seiner Leine zog, um an ihren Beinen zu schnuppern.
»Darf ich dich mal was fragen?«, bat Ethan.
Cara nickte.
»Warum bist du in der Schule immer so still?«
Cara schwieg für einen Moment. Hatte er sie etwa in der Schule beobachtet? Sie hatte immer gedacht, er hätte nur Augen für Alexis. Ihr wurde bewusst, dass er eine Antwort erwartete. Aber wie beantwortete man eine solche Frage? »Ähm, tagsüber bin ich taubstumm. Das ist so ähnlich wie Vampirismus, nur nicht so cool.«
Ethan prustete laut los. Sie grinste ihn an und verdrehte die Augen.
»Okay, hab schon kapiert«, erwiderte er. »Ich werd nicht
Weitere Kostenlose Bücher