Caras Schatten
und jetzt das hier. Wer mochte wohl verschwunden sein? Vielleicht dieses Goth Girl, das in Mathe neben ihr saß. Die sagte nie einen Ton, nicht mal, wenn sie vom Lehrer aufgerufen wurde, und sie malte ständig blutige Dolche in ihr Notizbuch. Bestimmt ging es um sie – sie schien genau der Typ, der von zu Hause wegrennen würde.
Mit diesem beruhigenden Gedanken schluckte Cara den letzten Bissen Pizza herunter, auf dem sie immer noch herumgekaut hatte, und setzte sich die Coladose an den Mund, um einen ausgiebigen Schluck zu nehmen.
»Die Schülerin Alexis Henning wurde letzte Nacht als vermisst gemeldet, nachdem sie von einer Party nicht nach Hause gekommen war«, kehrte die Stimme der Nachrichtensprecherin zurück.
Cara kippte sich vor Schreck ihre Cola über den Schoß.
Mom schnappte nach Luft. »Alexis? Wie furchtbar.« Sie starrte den Bildschirm an. Dad starrte ebenfalls wie gebannt geradeaus, das Pizzastück in seiner Hand hatte er offenbar vergessen.
Auf dem Bildschirm erschien ein korpulenter Mann mit schütterem Haar, der auf dem Rasen einer weißen holzverkleideten Villa stand, die mehrere Kilometer entfernt lag und, wie Cara wusste, Alexis’ Familie gehörte. Der Mann trug eine grüne Windjacke. An seiner Seite stand ein Reporter, der aussah, als wäre er ungefähr zwölf. »Harold Salazar ist Alexis Hennings Onkel und offizieller Sprecher der Familie.« Er wandte sich dem Mann zu. »Mr Salazar, was möchten Sie der Öffentlichkeit mitteilen?«
Alexis’ Onkel wirkte ein wenig nervös. Er sah abwechselnd den Reporter und die Kamera an. »Dies ist ein äußerst bedrückender Moment für unsere Familie«, las er von einem verschwitzten Zettel ab, den er fest umklammert hielt. »Alexis’ Eltern möchten die Medien darum bitten, ihnen in dieser bedrückenden Situation die nötige Privatsphäre zu gönnen« – Cara konnte sehen, wie ihm schlagartig bewusst wurde, dass er das Wort »bedrückend« wiederholt hatte – »und jeder, der irgendeinen Hinweis hat, der uns zu Alexis führen könnte, möge sich bitte umgehend an die Polizei wenden. Danke.« Er ließ seinen Zettel fallen und verschwand sekundenlang aus dem Blickfeld der Kamera, um ihn wieder einzusammeln.
Caras Lippen waren eiskalt. Sie nahm die verschüttete Cola kaum wahr, die sich langsam in ihre Jeans saugte. Die orangefarbene Nachrichtensprecherin kehrte mit ernster Miene zurück ins Bild. Ein winziges Porträtfoto von Alexis schwebte rechts über ihrem Kopf. »Die Polizei geht davon aus, dass es sich bei Alexis Hennings Verschwinden um Selbstmord handelt«, verkündete die Nachrichtensprecherin. »Die Vermisste wirkte offenbar seit dem Tod ihrer besten Freundin, Sydney Powers, extrem verstört.« Alexis’ Foto verschwand und wurde durch ein Foto von Sydney ersetzt. Cara zuckte innerlich zusammen, als sie das Bild von Sydneys Beerdigung wiedererkannte.
Die Nachrichtensprecherin fuhr fort: »Freunde der Vermissten berichten, dass sich Alexis kurz vor ihrem Verschwinden mit ihrem Freund gestritten hat. Die Polizei sucht derzeit im Bereich des Deer Fork River nach ihrer Leiche.« Auf dem Bildschirm erschien ein Video des Flusses. Der Himmel war bewölkt und Regentropfen bedeckten die Linse der Kamera. Polizisten in leuchtend gelben Regenjacken suchten den Fluss mit Motorbooten ab, während ein kleiner Kran, der auf einem weiteren Boot angebracht war, unermüdlich hin und her schwenkte. Cara glaubte, am rechten Bildrand Alexis’ Eltern zu erkennen, die sich gegenseitig im Arm hielten. Sie bildete sich ein, Alexis’ Mutter schluchzen zu hören.
»Oh, wie furchtbar.« Mom war kreidebleich geworden. Sie stellte ihren Teller auf den Couchtisch. »Kathy und Mike tun mir so leid. Ich werde sie gleich morgen früh anrufen. Und das so kurz nach Sydneys Tod! Vielleicht ist sie ja nur weggelaufen. Der Gedanke an Selbstmord ist einfach unerträglich.« Sie wandte sich Cara zu, die reglos auf der Couch saß. »Hast du etwas davon gehört, dass Alexis verschwunden ist, Cara?«
Ihr schoss ein Bild von Alexis’ violett geschminkten Lippen durch den Kopf, die sich im Foyer über sie lustig machten. Alexis, die sie auf Sarits Party anbrüllte, ihr Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen. Caras Magen rebellierte. Mit einem Mal bereute sie es, das letzte Stück Peperonipizza gegessen zu haben. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht«, würgte sie hervor.
Dad hatte sich wieder seiner Pizza zugewandt. »Tragisch«, sagte er
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