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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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der: Der Mann mit dem Zwanzigpfundschein erinnerte mich an meinen Vater. Gleiche Statur.
     Gleiche randlose Brille. Gleiches borstiges Altmännerhaar. Er saß allein an seinem Tisch. Ich musste ihn anstarren, weil die
     Ähnlichkeit so frappierend war, und dann erwiderte er meinen Blick und ich sah weg. Wahrscheinlich hatte es so angefangen,
     die Sache mit dem Zwanzigpfundschein: mit meinem Blick. Aber was mich am meisten störte, war die Frage, ob mein Vater auch
     so gewesen war. Hatte er sich lächerlich gemacht, indem er einem jungen Mädchen in den Ausschnitt stierte?
    Die Frau, wegen der mein Vater abgehauen ist, Switlana Surocha, ist fast im gleichen Alter wie ich. Um genau zu sein, sie
     war im Gymnasium zwei Klassen über mir. Sie war eine von denen, die alle mochten, ein hübsches Mädchen mit blonden Locken
     wie ein Filmstar, blauen Augen und Stupsnase, und sie lachte die ganze Zeit und machte sich über die Lehrer lustig. Später
     an der Schewtschenko-Universität, wo mein Vater Professor für Geschichte ist, war sie eine der Organisatorinnen |265| der orangen Studentenproteste. Dort hatten sie sich ineinander verliebt. Einfach so. So hatte er es jedenfalls meiner Mutter
     erzählt, und Mutter hatte es mir erzählt und bis tief in die Nacht geweint. Sie hatte eine Packung Taschentücher nach der
     anderen vollgeweint, bis ihre Nase ganz rot war und ihre Augen ganz klein und geschwollen waren wie die eines Ferkels. Kein
     schöner Anblick. Eigentlich konnte man Vater keinen Vorwurf machen, dass er sich von einer alternden, unattraktiven Frau entliebt
     hatte, die dauernd an ihm herumnörgelte, und sich stattdessen in eine verliebte, die jung und hübsch und lustig war. Die hübsche,
     blonde Studentenaktivistin und der distinguierte ukrainische Historiker – zusammengeführt durch die Liebe zur Freiheit. Was
     könnte romantischer sein?
    Natürlich tat mir meine Mutter leid, mit ihrem Schniefen und den durchweichten Taschentüchern. Aber ehrlich gesagt, jeder
     weiß, dass eine Frau selbst schuld ist, wenn sie ihren Mann nicht halten kann. Sie hätte sich eben mehr anstrengen müssen.
     Das Schlimmste war, Mutter wusste das selbst, und sie strengte sich an, färbte sich sogar die Haare und legte grellrosa Lippenstift
     auf und wickelte sich dieses alberne rosa Tuch um den Hals. Trotzdem, sie konnte das Jammern nicht lassen, es war richtig
     demütigend. »Wanja, liebst du mich nicht ein kleines bisschen?« Das machte alles nur noch schlimmer.
Ich
werde diesen Fehler bestimmt nicht machen.
    Mister Zwanzig Pfund – vom Äußeren her erinnerte er mich an meinen Vater; ein älterer, seriöser Herr, wahrscheinlich mit einer
     alternden Frau und Familie, die er irgendwo außer Sichtweite hielt. Aber der Blick in seinen Augen war wie der von Vulk. Hungrige
     Augen.
Gefällt dir, Blume   …?
Gierige Augen. Wie der Mann mich ansah, das war nicht romantisch, sondern eher so, wie eine Katze die Maus ansieht, |266| genüsslich jede ihrer Bewegungen beobachtet, bevor sie zuschlägt.
    Hatte mein lieber knorriger, runzliger Vater Switlana Surocha auch so angesehen? Waren Männer einfach so?
    Andrij hatte den Kopf gesenkt und machte ein muffiges Gesicht, und er ging wieder zu schnell für mich, aber noch einmal würde
     ich ihn nicht bitten, langsamer zu gehen. Ich würde nicht das Schweigen brechen. Ich gab meinem Vater nicht die Schuld. Aber
     da war dieses riesige leere Loch in meinem Herzen, diese Enttäuschung, nicht allein seinetwegen, sondern wegen allem, was
     mit Liebe und Romantik zu tun hatte. Da geht man durchs Leben und wartet, dass der Richtige auftaucht, wartet auf Küsse bei
     Mondlicht, ewige Liebe, Mr.   Brown und seine geheimnisvolle Beule, treu bis über das Grab hinaus; und dann stellt man plötzlich fest, dass man auf etwas
     gewartet hat, das es gar nicht gibt, und man muss sich mit etwas Zweitklassigem zufriedengeben. Was für ein Reinfall.
    Und als Andrij nach zehn Minuten Schmollen aus heiterem Himmel den Arm um mich legte, machte ich mich los und sagte: »Lass
     mich in Ruhe.«
    Im selben Moment bereute ich es, aber da war es schon zu spät.
Tut mir leid, war nicht so gemeint. Bitte nimm mich wieder in den Arm.
Aber das kann man nicht sagen, oder?
     
    Das war’s dann. In ein paar Tagen steckt er seinen Wochenlohn ein, und dann geht es ab nach Sheffield. Es bringt nichts, hier
     rumzuhängen und sich lächerlich zu machen, indem er einem Mädchen hinterherläuft, das keinen Funken

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