Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
machte.
    Es war kurz vor drei, gegen Ende der Mittagsschicht, und |272| ein paar der Angestellten waren schon weg. Im Restaurant saßen nur noch zwei Gäste, ein junges Pärchen, das gerade sein Mittagessen
     beendete. Auf einmal kam ein einzelner Mann herein und setzte sich an den Tisch am Fenster – denselben, wo Mister Zwanzig
     Pfund gesessen hatte. Zuerst erkannte ich ihn gar nicht, aber er erkannte mich sofort.
    »Irina?«
    Er war jung und dunkel und hatte sehr kurzes Haar. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, ein blütenweißes Hemd, eine dicke goldene
     Armbanduhr, die unter der Manschette hervorblitzte, und eine blau und rosa gemusterte Krawatte. Ehrlich gesagt, er war ziemlich
     attraktiv.
    »Vitali?«
    Er lächelte. »Hallo.«
    »Hey, Vitali! Du hast dich aber verändert!«
    »Was machst du hier, Irina?«
    »Geld verdienen natürlich. Und du?«
    »Auch Geld verdienen. Gutes Geld.« Er nahm ein klitzekleines Handy aus der Jackentasche und klappte es auf. »Personalvermittlungsagent
     für aktive dynamische Beschäftigungslösungen, die organisatorische Antwort auf jede Ihrer saisonalen Personalanforderungen.
     Besseres Geld als Erdbeer.«
    Okay, ich gebe zu, ich war beeindruckt.
    »Personalagent? Was ist das?«
    »Ach, heißt nur, dass ich für Leute Jobs besorge. Oder für Jobs Leute besorge. Ich habe immer Augen auf für Neuankömmlinge
     für spannende Stellenangebote.«
    »Du vermittelst Jobs?«
    Er zeigte mit dem Telefon auf mich und tippte ein paar Tasten.
    »Ich kann sehr Erste-Klasse-Job für dich finden, Irina. Super Bezahlung. Gute, saubere Arbeit. Luxusunterkunft |273| inklusive. Und mein Freund Andrij. Ich habe guten Job auch für ihn. Nähe Flughafen Heathrow. Ist er auch hier?«
    »Er arbeitet in der Küche. Tellerwäscher.«
    »Tellerwäscher. Hm.« Mit einem kleinen Lächeln schüttelte er den Kopf. »Irina, du, Andrij   … habt ihr Chance laufen?«
    »Vitali, warum fragst du so was?«, sagte ich. Doch er griff nach meiner Hand und sah mich mit seinen sehr dunklen Augen an,
     dass ich eine Gänsehaut bekam. »Irina, ganze Zeit ich habe an dich gedacht.«
    Ich wurde rot. Es klang so romantisch. Meinte er es ernst? Ich zog die Hand weg, für den Fall, dass Andrij uns beobachtete.
    »Vitali, dieser Job – um was für Arbeit geht es da?«
    »Sehr erste Klasse. Gourmetküche. Internationales Spitzenklasseunternehmen verzweifelt auf Suche nach verlässlichen, motivierten
     Vertretungskräften.« Seine Stimme war tief, und die Art, wie er diese langen englischen Wörter aussprach, war äußerst kultiviert.
     »Vertrag für Catering von große Fluglinie in der Nähe von Flughafen Heathrow.«
     
    Seit dem Tag, als der erste Mensch den Kopf aus der Höhle streckte, um die Sterne am Himmel zu bewundern, und dachte, wie
     schön es wäre, einen dieser Sterne für sich allein zu haben, seit jenem Tag träumt der Mensch davon, andere für sich arbeiten
     zu lassen und ihnen so wenig wie möglich dafür zu zahlen. Und niemand hat diesen Traum dynamischer verfolgt als Vitali. Den
     ganzen Tag durchkämmt er die Londoner Bars und Restaurants auf der Suche nach passenden Kandidaten. Die Neuankömmlinge, die
     Orientierungslosen, die Verzweifelten, die Gierigen. Das ist die Sorte Mensch, mit der sich gutes Geld verdienen lässt.
    Wie schon der weise, bärtige Karl Marx feststellte, von |274| seiner eigenen Hände Arbeit wird ein Mensch nicht reich, und wer zu den VIP Elite-Reichen gehören will, muss andere für sich
     arbeiten lassen. Um diesen Traum zu verwirklichen, hat man im Lauf der Jahrtausende viele kreative menschliche Lösungen ausprobiert,
     von Sklavenarbeit über Zwangsarbeit, Schuldversklavung und Strafkolonien bis zu Präkarisierung, Null-Stunden-Verträgen, flexiblen
     Arbeitsformen, Streikverbotsklauseln, obligatorischen Überstunden, Scheinselbständigkeit, Zeitarbeitsagenturen, Subcontracting,
     illegaler Einwanderung, Outsourcing und vielen anderen Phänomenen des organisatorischen Fortschritts in Richtung maximaler
     Flexibilität. Und die Speerspitze dieser permanenten Revolutionierung des Arbeitsprozesses ist die historische Rolle des Personalvermittlungsagenten
     für aktive dynamische Beschäftigungslösungen. Allerdings wissen das die wenigsten zu schätzen.
    Deshalb hat er trotz seines maßgeschneiderten anthrazitgrauen Anzugs mit Wollsiegel, dem neuesten Nokia N94i in der Jacketttasche
     und der original Rolex Explorer II, die unter seiner Manschette hervorblitzt, das Gefühl,

Weitere Kostenlose Bücher