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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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verarschst mich nicht noch mal.« Auf seiner bleichen Haut hebt sich die Narbe jetzt lila ab. »Hast du wohl vergessen,
     wer ich bin, toter Mann. Du denkst, wir reden clever Geschäft? Du vergisst, wie wir hier Geschäfte machen.«
    Andrij sieht, wie der Mann einen Revolver aus der Jackentasche zieht. Alles spielt sich wie in Zeitlupe ab. Er sieht das narbige
     Grinsen über den gebleckten Zähnen. Er sieht die Angst in Vitalis Gesicht. Zita schreit. Der Mann feuert vier Schüsse ab:
     zwei auf Vitali, einen auf Zita und einen auf den Spiegel hinter der Bar.
    Peng. Peng. Peng. Peng.
    Die schnelle Folge der Schüsse hallt wie unterirdische Explosionen in dem geschlossenen Raum. Andrij legt sich die Hände auf
     die Ohren. Um ihn herum bricht Chaos aus, Schreie und berstendes Glas, Zita fällt zu Boden, Vitali sackt auf dem Tisch zusammen,
     und das junge Paar, das zum Mittagessen da ist, fängt hysterisch zu kreischen an. Der Mann mit der Narbe dreht sich um, geht
     eilig auf die Restauranttür zu und verschwindet auf der Straße.
    In der Stille, die folgt, hört Andrij, wie Gilbert aus der Küche brüllt: »Was zum Teufel ist denn los da draußen?« Er hört,
     wie die junge Frau mit ihrem Handy die Polizei ruft. Er hört Zitas langgezogenes, zitterndes Stöhnen, als sie die zertrümmerte
     Masse aus Fleisch, Blut und Knochen anstarrt, die von ihrem Bein übrig ist. Von Vitali kommt kein Laut. Vorsichtig geht Andrij
     zu dem Tisch, wo Vitali liegt. Auf dem weißen Damast breitet sich ein roter Fleck aus, und aus den beiden klaffenden Löchern
     in Vitalis Stirn quillt eine graue Masse. Seine Augen sind offen. Die Finger umklammern |283| immer noch den Stiel des Weinglases, das in seiner Hand zerbrochen ist. Plötzlich schrillt eine seltsame Melodie aus seiner
     Jacke – ein grotesk fröhliches Geklingel – di di daa da – di di daa da – di di daa da – daa! Es klingelt eine Weile, dann
     ist es wieder still.
    Andrij starrt ihn an. Grauen breitet sich in ihm aus wie der rote Fleck auf der Tischdecke. Grauen und Schuldgefühle. Hätte
     er dazwischengehen sollen? Hätte er ihn retten können? Hat er Vitalis Tod heraufbeschworen mit seiner unausgesprochenen Wut?
     Aus irgendeinem Grund will er lachen – er muss sich den Mund zuhalten, um es zu verhindern. Sein nächster Impuls ist wegzulaufen
     – vor dem Tod, hinaus ins Sonnenlicht, in die Welt der Lebenden.
    Dann übernimmt der massige Gilbert das Ruder, erstaunlich gefasst. Er befiehlt dem Paar, den Mund zu halten, sich hinzusetzen
     und auf die Polizei zu warten, dann versucht er Zitas Wunde mit frischen Servietten zu verbinden.
    »Du kannst gehen, wenn du willst.« Er zieht Andrij diskret zur Seite. »Wenn du mit der Polizei nichts zu tun haben willst.«
    »Ist okay«, sagt Andrij. Dann fällt ihm der Revolver in seinem Rucksack ein.
    Als er in die Küche zurückgeht, stellt er fest, dass alle anderen verschwunden sind. Nur Irina ist noch da. Sie hält sich
     mit beiden Händen an der Spüle fest, als müsste sie sich gleich übergeben.
    »Geht’s?«
    Sie nickt schweigend. Aber es sieht nicht so aus, als ob es ihr gut ginge.
    »Und du?«
    »Ja. Geht.«
    »Wo sind alle hin?«, fragt sie. Sie zittert am ganzen Körper.
    |284| »Ich glaube, sie sind weg. Sie sind alle illegal. Bis auf Gilbert. Jemand hat die Polizei gerufen.«
    Im Gastraum ruft Gilbert nach Eiswürfeln. Andrij nimmt eine Schüssel, füllt sie mit Eis und bringt sie zu ihm raus. Gilbert
     versucht zwischen den Tischen Zitas Wunde abzubinden. Seine fleischigen Hände arbeiten erstaunlich flink, als er aus zusammengeknoteten
     Servietten eine Schlinge bindet. Der Geruch von Pulver hängt in der Luft. Das junge Paar starrt sprachlos auf Vitalis Wunde,
     aus der kein Blut mehr strömt. Das Blut ist geronnen, genau wie die Soße auf ihren Tellern. Die Frau weint leise.
    Plötzlich geht die Tür des Restaurants auf. Andrij blickt auf, er rechnet mit der Polizei oder dem Notarzt, doch stattdessen
     kommt ein untersetzter Kerl herein, der in einer Hand ein Handy und in der anderen einen Blumenstrauß hält. Er sieht aus wie
     ein ganz normaler Gast, der sich aufs Essen freut und nur zufällig in die grauenhafte Szene stolpert. Aber es ist kein normaler
     Gast. Es ist Vulk.
    Vulk bleibt in der Tür stehen und sieht sich langsam um, als müsste er erst begreifen, was das Chaos zu bedeuten hat. Sein
     breites Gesicht verrät keine Emotion. Geräuschlos zieht Andrij sich zurück. Sein Herz rast. Vulk

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