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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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dass er zu wenig Anerkennung bekommt.
     Was dir noch fehlt, denkt er, ist ein Mädchen, mit dem du deinen Erfolg teilen kannst – ein hübsches, sauberes, hochklassiges
     Mädchen, nicht so eine überschminkte billige Mietschlampe, sondern ein unschuldiges Mädchen, das du nach deinen Wünschen in
     der Liebeskunst unterweisen kannst; hübsch genug, um anderer Männer Neid zu erregen, aber nicht so hübsch, dass sie mit dem
     nächstbesten Typen mit Nokia N95ii und Rolex Daytona davonzieht. Was dir fehlt, ist ein Mädchen, das dich ermutigt und dich
     daran erinnert, dass du in Wirklichkeit ein guter Mensch bist. Ein dynamischer Mann. Ein VIP.   Kein Krimineller. Kein Versager. Und hier ist sie – genau das Mädchen, von dem du geträumt hast, und lächelt dich süß an,
     als |275| sie dir das zweite Glas kühlen Sauvignon Blanc einschenkt. Wirklich, ein sehr guter Wein – eine der kleinen Annehmlichkeiten
     in seinem Geschäft. Und – das ist die wahre Tragik – noch während du in die seidige Vertiefung zwischen ihren wunderschönen
     Brüsten blickst, meldet sich die geschäftstüchtige Stimme in deinem Hinterkopf und sagt: Mit diesem Mädchen könntest du gutes
     Geld verdienen.
    Denn wenn du in einem Provinzstädtchen im fernen Dnjestr-Tal aufgewachsen bist, an der Biegung des Flusses, der die Grenze
     zwischen Moldawien und der Republik Transnistrien bildet, wo das einzige Gesetz die Waffe ist, wo dein Vater und zwei deiner
     Brüder vor deinem Elternhaus auf der Hauptstraße erschossen wurden, weil sie sich weigerten, Schutzgeld zu zahlen, und dein
     dritter Bruder in den Unabhängigkeitskämpfen umkam, wo deine Mutter mit zweiundvierzig Jahren vor Kummer starb, als dein Elternhaus
     in Schutt und Asche gelegt wurde, und deine zwei kleinen Schwestern von einem kosovarischen Gauner an einen Massagesalon in
     Peckham verkauft wurden – wenn du in einer Stadt wie Bendery aufgewachsen bist, bist du ziemlich abgehärtet.
    Oh, Bendery! Wo die trostlosen Sowjet-Betonklötze ein wildes Herz verbergen; wo die Gassen nach verstopften Abflüssen und
     gebratenem Knoblauch riechen; wo die Sonnenuntergänge in den ausgebrannten Fenstern der Ruinen am Fluss wie Feuer flammen;
     wo der breite Fluss, dessen silbrige Wellen an sandige Gestaden lecken, von Zeit zu Zeit eine Leiche anspült; wo in den Wäldern
     immer noch die Geister der Ermordeten stöhnen; wo in den Straßen das Blut stand. Oh, Bendery! Seine Augen werden feucht, mit
     bittersüßem Schmerz. Er starrt Irina in die Bluse. Einmal hatte er ein Mädchen wie sie in Bendery. Rosa. Die Tochter der Schulbibliothekarin.
     Sie war fünfzehn und Jungfrau. Genau wie |276| er. Ihre Augen waren dunkel und glühten vielversprechend. Sie trafen sich nach der Schule auf einer geheimen Lichtung am Fluss.
     Auch sie ist wahrscheinlich inzwischen in Peckham.
    Früher, in einer anderen Zeit, war Vitali die Hoffnung der Familie gewesen – der Student, der große Träume hatte, der Augapfel
     seiner Mutter. Er wäre Anwalt oder Politiker geworden, käme er nicht aus Bendery – und hätte er nicht das alles verändernde
     Buch gelesen, das in der Schule im Giftschrank stand, mit den Büchern, die nicht mehr erwünscht waren. Manche waren über achtzig
     Jahre alt, und die Bibliothekarin bewahrte sie auf für den Fall, dass die Zeiten sich wieder änderten. Wahrscheinlich standen
     sie immer noch dort.
    Er war gerade sechzehn geworden, 1992, als Transnistrien sich wegen eines Streits über die Schrift von Moldawien abspaltete.
     Kyrillisch gegen Lateinisch. Natürlich hatte er sich den Patrioten angeschlossen, wie seine Brüder, doch er war nicht mit
     dem Herzen bei der Sache, und so schaffte er es, sich aus den schlimmsten Kämpfen herauszuhalten, obwohl Bendery – am westlichen
     Ufer des Dnjestr gelegen und mit dem Rest von Transnistrien nur durch eine Brücke verbunden – die Frontlinie des Bürgerkriegs
     bildete. Zweitausend Menschen ließen ihr Leben, darunter sein ältester Bruder, Hunderte von Häusern brannten nieder, darunter
     sein Elternhaus, nur wegen der Frage, in welcher Schrift geschrieben werden sollte. Er war kein schlechterer Patriot als die
     anderen, doch die Frage war ihm einfach nicht wichtig genug, um sein Leben dafür zu opfern. Ein paar Schlaumeier sagten, es
     ginge in Wirklichkeit um Politik – um die Frage, ob es an der Zeit sei, sich von der russisch dominierten Vergangenheit zu
     verabschieden und sich beim westlich orientierten Rumänien

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