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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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schwarz, blau, silbern, weiß,
     Welle für Welle, wie ein endloser Fluss, der sich ins Meer ergießt. Meiner Meinung nach gab es in England viel zu viele Autos.
     Andrij dagegen beobachtete den Verkehr wie verzaubert, blieb mit dem Blick an einzelnen Autos kleben, verrenkte sich den Hals.
     Einmal rief er: »Schau, Irina, siehst du den Ferrari?«
    »Mhm. Ja. Wunderschön«, sagte ich, obwohl ich fand, dass sie alle gleich aussahen, bis auf die Farben. Aber das muss man tun
     bei Männern, ihre Interessen teilen.
    Meine arme Mama hatte es versucht. Um Papas Interesse für die Politik zu teilen, wurde sie orange, stellte sich auf den Platz
     und skandierte für Juschtschenko. Aber anscheinend teilte er mehr mit Switlana Surocha.
    »Wo das Herz die Hoffnung verliert, beginnt die Sklaverei«, hatte Papa gesagt. »Hoffnung ist der erste Schritt zur Freiheit.«
    Und Mama sagte darauf: »Mein Herz hat noch Hoffnung, dass du eines Tages lernst, das Geschirr zu spülen.«
    Sehen Sie? Mama ist selbst schuld. Sie hätte sich mehr |294| Mühe geben sollen. Vielleicht muss ich eben am Straßenrand stehen und für Ferrari skandieren.
    »Andrij, was ist so besonders an einem Ferrari?«, fragte ich.
    Er machte ein todernstes Gesicht und runzelte die Stirn. »Weißt du, Irina, worauf es ankommt, ist die Technik. Manche sagen,
     es ist das Design, aber ich bin der Meinung, das Besondere am Ferrari ist die hohe Qualität des V1 2-Motors . Quergetriebe. Trockensumpfschmierung.«
    »Mhm«, sagte ich.
    Mir war es lieber, wenn er von Sheffield sprach.
    Es war zwar noch früh am Morgen, aber die Sonne brannte bereits herunter, die Luft war schlecht und es roch nach verbranntem
     Öl und heißem Asphalt. Trotz des Stroms von Autos dauerte es fast eine Stunde, bis jemand anhielt, um uns mitzunehmen. Es
     war ein uralter Mann, so gut wie kahl, mit dicken Brillengläsern. Auch sein Auto war uralt, mit Rostflecken an den Türen.
     Die Sitzpolster bestanden aus quadratischen Schaumstoffkissen, die in verschossenen Strickbezügen steckten. Ich sah die Enttäuschung
     auf Andrijs Gesicht.
    Schon nach kurzer Zeit merkten wir, dass auch mit seiner Fahrweise etwas nicht stimmte. Dauernd wechselte er die Spur und
     überholte auf beiden Seiten. Wenn er beschleunigte, machte der Motor schreckliche Geräusche und der ganze Wagen bebte, als
     würden gleich die Räder abfallen. Andrij hielt sich mit beiden Händen am Gurt fest. Sogar Hund sah beunruhigt aus. Ab und
     zu drückte der alte Mann beim Überholen auf die Hupe: Tuut! Tuut! Tuut!, und schrie: »Noch so ein Kraut, den wir vom Himmel
     geschossen haben!«
    »Warum schreit er die Autos an?«, fragte ich Andrij flüsternd.
    »Deutsche Autos«, sagte Andrij leise. »Volkswagen. BMW.«
    |295| Ich fand, man hätte ihm den Führerschein abnehmen sollen.
    Der Mann erkundigte sich, wo wir herkamen, und als ich Ukraine sagte, meinte er, Ukrainer seien feine Menschen, großartige
     Verbündete, und schüttelte mir die Hand, als hätte ich den Krieg persönlich gewonnen, und wir kamen fast von der Straße ab.
     Dann passierten wir einen Toyota, und er hupte, Tuut! Tuut!, und rief: »Du kleine gelbe Ratte!«, was sehr merkwürdig war,
     denn es war ein rotes Auto.
    »Ich frage mich, was er tut, wenn er einen Ferrari überholt«, flüsterte ich Andrij ins Ohr, aber Andrij sagte, das wäre unmöglich.
    Dann nahm er auf einmal eine Ausfahrt, jagte um einen Kreisel, bog links ab, und plötzlich waren wir auf einer kleinen Landstraße.
    »Ist das der Weg nach Sheffield?«, fragte ich.
    »Ja, ja. In der Nähe von Luton. Das liegt auf eurem Weg.«
    Vor uns tuckerte ein alter blauer VW Polo langsam vor sich hin. Unser Fahrer fuhr dicht auf und fing an zu hupen und aufzublenden.
     Doch der Polo ließ sich nicht stören. Schließlich gab unser Fahrer Gas und setzte zum Überholen an. Andrij und ich hielten
     die Luft an. Die Straße war viel zu kurvig, um zu sehen, ob uns etwas entgegenkam. Als er mitten in einer Kurve an dem Polo
     vorbeifuhr, tauchte ein großer grauer Wagen vor uns auf und raste auf uns zu. Unser Fahrer bremste. Dann überlegte er es sich
     anders und trat aufs Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorn, dann schnitt der Fahrer nach rechts rein. Bremsen quietschten.
     Der Polo musste ausweichen und landete mit zwei Rädern im Graben. Der graue Wagen schleuderte und landete im Graben auf der
     anderen Seite. Unser Fahrer fuhr weiter.
    »Na bitte!«, sagte er und machte ein zufriedenes Gesicht. |296|

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