Caravan
Schlechter Geruch. Nicht ihr Typ.
|85| »Andrij? Was ist jetzt dein Plan?«, fragt sie.
Andrij schweigt ein paar Minuten, und Jola will schon nachbohren, als er mit leiser Stimme antwortet: »Ich werde erst Irina
finden.«
Die anderen schweigen betreten. Marta fängt zu weinen an.
Ich war wohl eingeschlafen. Ich wachte auf, als ein Sonnenstrahl in die Höhle drang, in der ich mich eingerollt hatte. Von
der kalten, feuchten Erde waren meine Glieder ganz steif. Der ganze Körper tat mir weh. Ich stand auf, streckte mich. Dann
fiel mir alles wieder ein. Vulk. Der Wald. Die Flucht. Lag er immer noch da draußen auf der Lauer? Ich kauerte mich wieder
hin. Es war noch zu früh zum Feiern, aber ich lebte, war unverletzt und ein neuer Tag war angebrochen.
Die Sonne musste schon vor Stunden aufgegangen sein, doch die Luft war noch frisch und dunstig, ein weicher Morgendunst, der
einen warmen Tag versprach. Kennen Sie das, wenn man manchmal morgens mit einem Gefühl reiner Freude aufwacht, einfach nur,
weil man am Leben ist? Ich hörte die Vögel zwitschern und die Schafe blöken, und dann war da noch ein Klang, weiter weg, ein
süßer, heiterer Klang. Kirchengeläut. Es musste Sonntag sein. In Kiew läuten sonntags die Glocken in der ganzen Stadt, und
die Landfrauen, die in die Stadt kommen, tragen ihre besten Kleider und Kopftücher, ihre Goldzähne blitzen, und sie bekreuzigen
sich, wenn sie aus der Kirche kommen, und Mutter macht Quarkkuchen mit Rosinen, und unser Kater Vaska bekommt ein Schälchen
Sahne, dann putzt er sich die Pfoten und reibt sich die Ohren – wirst du dich an mich erinnern, wenn ich heimkomme, Vaska?
Komme ich je wieder heim? Plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Schnief. Schnüff. |86|
Hör auf. Du musst einen kühlen Kopf bewahren und die Augen offen halten. Mach einen Plan.
Unter mir konnte ich den Weg zwischen dem Feld und dem Waldrand sehen, den ich gestern entlanggelaufen war. Ich erinnerte
mich an meine Angst. An mein klopfendes Herz. An die Sterne, die über der Hecke hüpften. Bei Tageslicht sah der Weg so nett,
so idyllisch aus, wie er sich unschuldig den waldigen Hügel hinaufschlängelte. Auf der anderen Seite tauchte er hinter dem
Horizont ab und verschwand aus meinem Sichtfeld. Wo war ich? Wie weit waren wir gestern Nacht gefahren? Wie lange war ich
ohnmächtig gewesen?
Ich sah mir die Felder an, eins nach dem anderen. Vielleicht konnte man von hier oben das Erdbeerfeld sehen. Ich würde es
an den beiden Wohnwagen erkennen. Aber obwohl mir die Landschaft vertraut vorkam, stellte ich bald fest, dass alle Felder
irgendwie gleich aussahen, ein Flickenteppich aus braunen und grünen Taschentüchern, die ein Muster aus Petersilienstängeln
hatten. Gab es Taschentücher mit Petersilienmuster? Wahrscheinlich nicht. Zwischen zwei hohen Hecken führte eine schmale Straße
den Berg hinauf. Oben war eine Reihe Pappeln. Ich zählte die Pappeln – eins, zwei, drei, vier, fünf. Waren es dieselben Pappeln?
Nicht weit davon stand eine Gruppe von Bäumen, die zu dem Wäldchen auf dem Hügel über dem Erdbeerfeld gehören könnte. Aber
wo war der Wohnwagen? Weiter im Westen war ein seltsames weißes Feld, das glitzerte wie ein See. Nur dass die Ränder dafür
zu eckig waren. Es sah aus wie mit Glas oder Plastik zugedeckt. Gab es solche Felder in der Nähe? Ich konnte mich nicht erinnern.
Häuser sah ich keine, nur einen gedrungenen Kirchturm, der hinter dem glitzernden Feld aus Bäumen aufragte. Vielleicht war
dort ein Dorf, versteckt in einer Falte der Landschaft. Vielleicht |87| waren dort Kirchengeläut und Menschen, die zum Gottesdienst gingen.
Weiter unten, wo der Weg von der Straße abging, blitzte etwas auf – durch das Laub der Bäume sah ich, wie etwas Metallisches
das Sonnenlicht reflektierte. Da musste ein Auto stehen. Wieder begann mein Herz zu klopfen – bumm, bumm. Mir wurde flau im
Magen. Lag er immer noch dort auf der Lauer und wartete auf mich? Würde er heraufkommen und nach mir suchen? Leise versteckte
ich mich wieder in meiner Höhle und zog einen Ast über mich. Diesmal würde er mich nicht erwischen. Egal wie lange er wartete,
ich würde länger warten.
Wenn das Vorwärtsfahren mit dem Wohnwagen schon schwierig ist, im Rückwärtsgang ist es noch viel schlimmer, stellt Andrij
fest. Die Kiste scheint ihre eigenen Vorstellungen zu haben. Als sie endlich aufbrechen, ist es spät am Vormittag. Emanuel
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