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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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mit einer der Pflückerinnen, und Wendy Leapish hatte einen moldawischen Lustknaben.«
    Was um Himmels willen, fragte ich mich, war ein moldawischer Lustknabe?
    »Ich habe gehört, nachdem ihr Mann aus dem Krankenhaus kam, hat sie ihn in einen Rollstuhl gesetzt und zusehen lassen, wie
     sie es taten. Ist das zu glauben? Hier, mitten in Sherbury.«
    »Das muss auch passiert sein, nachdem ich weg war.« Die Frau mit den Brauen notierte etwas. In der Ukraine habe ich schon
     so einige Augenbrauenkatastrophen gesehen, inklusive der von Tante Vera, aber die hier gehörte zu den allerschlimmsten. Sie
     gab mir eine vorläufige Nummer, bis die Sache mit meinen Papieren geklärt war, und wies mir eine Koje in Wohnwagen sechsunddreißig
     zu, bei Oksana. Dort wohnten noch zwei ukrainische Mädchen, alles ehemalige Arbeiterinnen aus einer Schuhfabrik in Charkiw,
     die früher die sowjetische Armee ausgerüstet hatte und jetzt geschlossen war, und alle hatten die gleiche Bescheinigung von
     demselben nicht existierenden Landwirtschafts-College wie ich.
    |151| »Willkommen im Irrenhaus«, sagte Lena, die jüngste von uns vieren. Sie hatte sehr dunkle traurige Augen und einen jungenhaften
     Kurzhaarschnitt. Dann holte sie eine Flasche Wodka aus ihrem Spind und reichte sie herum. Ich wollte »Nein danke« sagen, aber
     stattdessen sagte ich »Was soll’s« und nahm einen tiefen Schluck.
    Seht ihr, Mutter, Papa? Mir geht es gut. Alles ist gut.
Sobald ich ein Telefon fand, würde ich sie anrufen. Ich fragte mich, was mit dem Foto passiert war, das ich im Wohnwagen aufgehängt
     hatte. Ich fragte mich, was mit dem Wohnwagen passiert war, und mit den anderen – mit den Chinesinnen, mit denen ich das Bett
     geteilt hatte; mit Marta, die immer so lieb war; mit dem nett aussehenden ukrainischen Bergarbeiter aus Donezk. Würde ich
     sie je wiedersehen?
     
    Tomasz fällt es schwer, sich vorzustellen, wie vierzigtausend Hühner auf einmal aussehen, und selbst als er es mit eigenen
     Augen gesehen hat, kann er es immer noch nicht ganz glauben.
    Als Neil die Tür zur Halle aufmacht, schlägt ihnen eine Welle von Hitze und Gestank entgegen, und im Halbdunkel sieht er nichts
     als einen dicken Teppich aus weißen Federn; dann, als Neil das Licht anknipst, bewegt sich der Teppich; nein, er kriecht;
     nein, er brodelt. So dicht stehen die Viecher, dass man unmöglich sehen kann, wo ein Huhn aufhört und das nächste anfängt.
     Und der Gestank! Es beißt in seinen Augen, seiner Nase – eine stinkende Wolke reiner Ammoniak, die auf den Schleimhäuten brennt,
     er muss husten und weicht zurück und hält sich die Hand vor den Mund. Er hat Bilder von den Verdammten in der Hölle gesehen,
     aber das war nichts im Vergleich zu dem hier.
    »’ne Menge Hühner, was?«, sagt Neil, der ihm alles zeigen soll. Neil ist Darrens Sohn, siebzehn Jahre alt, dünn und groß |152| wie sein Vater, und er hat die gleichen Hautprobleme. »Das ist alles, was du machen musst – du packst sie an den Füßen, immer
     vier oder fünf aufs Mal, und steckst sie hier in die Käfige rein. Mehr musst du nicht machen.« Er schlägt die Tür wieder zu.
    »Viel. Zu viel Menge.«
    »Ja, zu viel Menge. Hehehe«, der Junge kichert. »Das ist gut. Liegt daran, weil sie fett werden. Zuerst sind es noch kleine
     gelbe Küken, und sechs Wochen später sind sie so – zu fett, um auf ihren eigenen Beinen rumzulaufen. Na ja, gibt’s auch bei
     Menschen, oder? Richtige Fettsäcke. Hast du das mit der Frau gelesen, die im Flugzeug zwei Plätze brauchte, und da haben sie
     sie zwei Tickets bezahlen lassen?«
    »Zwei Tickets?« Tomasz wünschte, der Junge würde nicht so schnell reden.
    »Im Büro kannst du dir einen Overall holen.«
    »Aber das ist normal?«
    Tomasz hat immer noch nicht verkraftet, was er gesehen hat. Allein auf dem kleinen Stück vor seinen Füßen – einem Quadratmeter
     vielleicht – hat Tomasz eins, zwei, drei   … zwanzig Hühner gezählt, die sich panisch drängeln, als sie versuchen, vor den Männern zu flüchten. Sie nennen sie Hühner,
     dabei sehen die armen Viecher eher aus wie missgebildete Enten – riesige aufgeblasene Körper auf verkümmerten Beinen, auf
     denen sie unter ihrem eigenen Gewicht grotesk schwankend herumtorkeln – die, die sich überhaupt noch bewegen können.
    »Ja, die züchten sie irgendwie so, dass sie schneller fett werden.« Neil holt ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, steckt
     eine in den Mund und bietet Tomasz auch eine

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