Caravan
Schwester,
heute sind wir gen London aufgebrochen, und ich durfte vorn neben Andree sitzen und war bereits erfreut über die Gelegenheit,
Andree weiter zu befragen, doch Andree sagte, er kann nicht zur gleichen Zeit fahren und Englisch mit mir reden.
Also dachte ich über die englische Sprache nach, die manchmal wie eine schreckensvolle schlüpfrige Schlange ist, sich hierhin
und dorthin windet und mir mit ihrem schuppigen Schwanz die Zunge peitscht. Dann sprudelten in meiner Erinnerung meine ersten
Englischstunden bei Schwester Benedicta in der Waisenhausschule in Limbe, die keine Engländerin war und auch nie in England
gewesen, sondern aus Goa in Indien kam und portugiesische Teile hatte. Die ihr Englisch von einer irischen Nonne gelernt hatte,
welche irgendwie an ihrer fernen Küste angespült worden war und deren Beispiel Schwester Benedicta folgte,
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als sie selbst Nonne wurde und nach Afrika reiste wegen unserer vielen verlorenen Seelen, die zu retten waren, sagte sie.
Schwester Benedicta erlegte uns ihre Erziehung mit Chorgesängen der biblischen Predigten auf und anderen erhebenden Objekten
der Andacht, damit wir sie in unserer Erinnerung behielten. Im Gegenteil zu Schwester Theodosia, die dick war, war Schwester
Benedicta dünn und streng, mit glatter brauner Haut und zielsicheren Augen, und sie trug eine kleine Goldrandbrille an einer
Kette um den Hals und hatte einen schnellen Stock.
Und damals, als ich zwölf Jahre von Alter war und du, liebe Schwester, schon fort in Blantyre, begann ich, mir Fragen über
Fleischerlust zu stellen. Schwester Benedicta schüttelte ihren Stock, als ich sie fragte, und Schwester Theodosia schickte
mich zu Pater Augustinus, damit ich ihn fragte, wenn er aus Zomba kam, aber Pater Augustinus sagte, Fleischerlust sei eine
Sünde, und der Sünde Lohn sei der Tod. Immer wenn ich an Fleischerlust denke, rasseln seine Worte in meinem Kopf.
Andrij ist immer noch verstimmt wegen gestern Abend, und er hat keine Lust, sich mit Emanuel zu unterhalten, der neben ihm
auf dem Beifahrersitz sitzt, fröhlich grinst und ihm Fragen über Fleischer stellt. Was hat er bloß immer mit Fleischern? Und
warum war er so fasziniert von dem schrecklichen Vorgang in dem Geländewagen? Er ist doch viel zu unschuldig, um sich für
so was zu interessieren. Oder vielleicht auch nicht.
Und da ist noch was, das ihn stört: Warum sitzt Irina hinten, wenn sie als Frau doch klarerweise vorn sitzen sollte? Das kann
nur heißen, dass sie nicht neben ihm sitzen will. Ist er zu unzivilisiert für sie? Na ja, es spielt jetzt keine Rolle mehr,
weil er sie bald beide in London absetzen wird, |224| Emanuel bei Toby McKenzie und Irina bei der ukrainischen Botschaft, wo sie einen neuen Pass bekommt, und dann wird er sich
auf den Weg nach Sheffield machen, was auch immer ihn dort erwartet.
Die Kupplung springt raus, als er in den zweiten Gang schalten will, und er muss den Hebel direkt vom ersten in den dritten
rammen. Dieser Ort, den sie suchen, dieses Richmond Park – das scheint nichts zu sein außer einem großen Feld und ein paar
Bäumen. Wo sind die Häuser? Schließlich finden sie eine kurze Häuserreihe an der Südseite des Parks. Das Haus, das sie suchen,
die Nummer fünf, steht am Ende der Reihe.
Er sieht schon von außen, dass hier ein erfolgreicher Geschäftsmann wohnt. Viele Fenster, Eingang mit Säulen, Doppelgarage
und so weiter. Vitali wird garantiert auch mal in so einem Premium-Haus wohnen. Und der Wagen? Hm. Der einzige Wagen vor der
Tür ist ein VW Golf 2.0 GLS – kein schlechtes Auto, Cabrio mit Ledersitzen, hochwertiger Soundanlage und Automatikgetriebe, ungünstig bei starken
Motoren, weil man mit Schaltgetriebe bessere Leistung kriegt, aber trotzdem, ganz hübscher Wagen. Ja, er hätte nichts gegen
eine Probefahrt damit, aber wirklich, bei so einem Haus hätte er was Aufregenderes erwartet.
Doch woher kennt Emanuel einen so reichen Mann? Denn jetzt geht sein Freund mit dem Zettel in der Hand direkt auf die Haustür
zu, ein strahlendes Lächeln im Gesicht, und klingelt mehrmals. Eine Frau taucht an der Tür auf, ungefähr in Wendys Alter,
aber viel schöner, obwohl ihr Haar braun ist, nicht blond, mit ein paar grauen Strähnen, elegant aus dem Gesicht gekämmt.
Eigentlich sieht sie genau aus wie Mrs. Brown aus
Let’s Talk English
, mit einer schmalen Taille und hübschen Brüsten, aber sie hat keine Schuhe an und ihre
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