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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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schenken.
    Diese Gedanken und das überschwängliche Wirbeln des Wassers ließen mein Herz aufgehen und ich sang das Loblied, das Schwester
     Theodosia mich lehrte,
Ave Maria Gratia Plena
. Und auch das war freudvoll, denn der Name dieser Ma ist Maria.
     
    |238| Andrij Palenko, wie kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, wegzugehen und deinen jungen Freund Emanuel allein in der
     Obhut dieser abnormalen Familie zu lassen? Was ist los mit diesen Leuten in ihrem großen Haus mit den vielen Fenstern? Zwei
     Autos (ja, als der Vater da war, hat Andrij in der Einfahrt einen schönen dicken Lexus neben dem kleinen Golf stehen sehen),
     drei Super-Computer, vier Fernseher, alle mit Flachbildschirm, fünf Badezimmer, vier davon direkt an den Schlafzimmern (ja,
     er hat eine kleine Tour durchs Haus gemacht). Und so weiter. Wofür das ganze Zeug, wenn es kein Glück ins Haus bringt?
    Wenn seine Familie auch nur ein Zehntel, nein, ein Hundertstel von all dem Reichtum gehabt hätte, dann wäre alles ganz anders
     gekommen – und die Leute hier hätten noch nicht einmal etwas vermisst.
    »Ein Mensch braucht, was er braucht«, hat sein Vater immer gesagt. »Nicht mehr und nicht weniger.« Aber sie hatten nicht so
     viel gehabt, wie sie brauchten. Armer Vater. Ja, sein Vater wusste besser als jeder andere, wie gefährlich es war, unter diesen
     Bedingungen im Bergwerk zu arbeiten. Aber wenn man weniger hat, als man braucht, muss man tun, was getan werden muss.
    Andrij liegt auf einem der beiden Betten in dem Zimmer, das er sich mit Emanuel teilt, starrt an die Decke und versucht sich
     auf das Gespräch vorzubereiten, das vor ihm liegt. Im nächsten der fünf Badezimmer singt Emanuel aus vollem Hals und erfüllt
     das ganze Haus mit jubelnden Klängen. Andrij sieht ihn plötzlich wieder in der Kathedrale vor sich. Sein offener rosa Mund,
     die geschlossenen Augen, die Tränen. Der Gesang hört auf. Dann ist das gurgelnde Geräusch von abfließendem Wasser zu hören.
     Da kommt er.
    »Emanuel, mein Vater wurde in Grubenunglück getötet. Dein Vater wurde von Fleischern umgebracht, oder?«
    |239| »Beide sind gestorben. Mutter und Vater.«
    »Das ist ja schrecklich. Beide Eltern auf einmal.«
    »Und mein kleiner Bruder. Das kann ich nicht verstehen. Auch mein kleiner Baby-Bruder wurde bestraft.«
    »Emanuel, das war nicht Strafe. Das war Mord. Die Opfer trifft keine Schuld.«
    »Aber vielleicht war mein Vater schuld, weil er meiner Mutter untreu war.«
    »Und du meinst, die Fleischer haben ihn bestraft?«
    »Nein, nein. HI V-Krankheit hat ihn bestraft.«
    Hm. Irgendwas hast du hier nicht ganz verstanden, Andrij Palenko. Aber es bringt nichts, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen,
     die man nicht kapiert. Du hast nur diese eine Nacht, um deine Botschaft rüberzubringen.
    »Emanuel, mein Bruder – du weißt, was Kondom ist?«
    »Natürlich. Es ist ein Frevel vor dem Herrn. Auf Chichewa haben wir ein Sprichwort:
Nur ein Tor isst das Bonbon mit dem Papier.
«
    Emanuel steht in der Mitte des Raums und trocknet sich energisch mit einem flauschigen weißen Handtuch ab, als wollte er seinen
     kleinen, schmalen, sehnigen Ebenholzkörper auf Hochglanz polieren. Andrij hat ihn noch nie nackt gesehen. Er versucht nicht
     hinzustarren, aber er kann sich den einen oder anderen heimlichen Blick nicht verkneifen. Ist es wahr, was man über den schwarzen
     Mann sagt?
    »Kondom schützt dein Leben, Emanuel. Mit Kondom kannst du jede Menge Sex haben, ohne Problem. Kein Virus. Kein Organismus.
     Kein HIV.   Kein Problem. Danach sagst du Gebet und Gott vergibt dir.«
     
    Mrs.   McKenzie zeigte mir mein Zimmer oben unter dem Dach – ein bildhübsches Zimmer ganz in Blau und Weiß, wo alles zusammenpasste,
     wie in einem Magazin. Ich hatte |240| sogar mein eigenes kleines Bad mit flauschigen weißen Handtüchern, die über einer beheizten Stange hingen, und mit einem frischen
     Seifenstück, das noch in Papier eingewickelt war. Ich wickelte es sofort aus. Es roch frisch und teuer, nicht süß und klebrig
     wie die Seife in der Ukraine. Ich überlegte, ob es unhöflich wäre, wenn ich sie fragte, ob ich die Seife mitnehmen dürfte,
     oder ob sie es überhaupt bemerken würde, wenn ich sie einfach einsteckte. Ich duschte und zog dann mein Nachthemd an, das
     in dem sauberen blauweißen Zimmer gräulich und zerknittert wirkte, aber etwas anderes hatte ich nicht. Dann setzte ich mich
     in den Sessel, roch die Seife an meinen Armen und Händen

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