Carina - sTdH 3
Der tiefe Ausschnitt ihres Kleides enthüllte dermaßen
bläulich angelaufene Haut, daß es aussah, als trüge sie ein blaues
Gazehalstuch.
Schließlich
konnte sich die Gesellschaft frei im Garten bewegen und diesen begutachten. Guy
nahm Emily am Arm und entfernte sich mit ihr in Richtung Rosengarten.
»Wer ist
derjenige, von dem Sie erzählt haben, daß er in Waterloo war?« schreckte Lord
Harry Carina aus ihren Gedanken auf.
»Er ist
gerade zum Rosengarten gegangen«, antwortet Carina, die gleichsam aus ihrer
Starre erwachte. »Ach, lassen Sie uns auch hingehen, Mylord, und Sie können
Erinnerungen austauschen.«
»Einverstanden«,
stimmte er liebenswürdig zu, indem er ihre Hand unter seinen Arm zog.
Der
Rosengarten konnte nur noch mit ein paar spärlichen Blüten aufwarten, aber er
bot wenigstens einigermaßen Schutz vor dem Wind.
Guy lehnte
lässig an einer Sonnenuhr und flüsterte Emily etwas zu, worauf diese kicherte
und mit der Spitze ihres Sonnenschirms Muster in den Boden zeichnete.
»Mr.
Wentwater!« rief Carina mit schriller Stimme.
»Mist«,
sagte Emily hörbar. »Das ist so ein Quälgeist vom Pfarrhaus.«
Carina ging
entschlossen weiter und zog Lord Harry fast hinter sich her.
»Mr.
Wentwater«, wiederholte Carina, als sie vor ihnen standen. »Erlauben Sie mir,
daß ich Ihnen Lord Harry Desire vorstelle. Lord Harry, Mr. Wentwater. Miss
Emily Armitage kennen Sie ja bereits.«
Guy machte
eine Verbeugung. Eine kleine Pause entstand. Lord Harry lächelte allen
verbindlich zu und hielt seinen pelzbesetzten Hut und seinen Stock in einer
Hand, während der lebhafter werdende Wind seine schwarzen Locken zerzauste.
Emily durchbohrte Carina mit einem giftigen Blick. Unter ihrem Schutenhut sah
sie aus wie ein kleines, boshaftes Tier, das aus seinem Loch herausstarrt.
»Ich hatte
einfach das Gefühl«, sagte Carina heiter, »daß ich die beiden Herren
zusammenbringen muß. Lord Harry war auch in Waterloo, Mr. Wentwater, und ich
kann es kaum erwarten, Ihre Erzählungen über diese große Schlacht zu hören.«
»Großer
Gott!« rief Guy Wentwater. »Meine Tante ruft mich. Sie scheint sich große
Sorgen zu machen.«
Und er sah
völlig verwirrt aus. Er machte eine ungeschickte Verbeugung und rannte aus dem
Rosengarten.
Lord Harry
nahm sein Lorgnon heraus und blickte interessiert der sich rasch entfernenden
Gestalt Guy Wentwaters nach.
»Der Mann
hat ausnehmend gute Ohren«, murmelte er. »Wie eine Fledermaus. Ich habe nicht
das geringste gehört.«
»Auch wir
sollten lieber gehen«, meinte Carina. »Vielleicht braucht Lady Wentwater
Hilfe.«
Sie eilte
in die Richtung, die Guy eingeschlagen hatte, ohne sich auch nur umzusehen, ob
die anderen beiden überhaupt die Absicht hatten, ihr zu folgen.
Doch als
sie bei der übrigen Gesellschaft angekommen war, sah sie keine Spur von Guy.
Das einzige laute Geräusch kam von ihrem Vater und Sir Edwin. Sir Edwin sagte
gerade unverblümt, daß er die Einrichtung eines Wohltätigkeitsstandes auf
seinem Fest für äußerst vulgär halte, und der Vikar schleuderte ihm
Bibelsprüche entgegen, als wären es Steine.
Carina
suchte ganz außer sich die Gegend ab, mal hierhin, mal dorthin laufend, bis sie
schließlich auf die untersetzte Gestalt Lady Wentwaters stieß, die mit Squire
Radford unter einer Ulme saß und sich mit ihm in seine Decken teilte.
»Wo ist Mr.
Wentwater?« keuchte Carina, und es entging ihr nicht, daß die freundlichen
Augen des Squires unangenehm aufmerksam dreinschauten.
»Das wüßte
ich selber gern«, sagte Lady Wentwater. »Warum suchst du ihn nicht selbst?«
»Aber ich
habe gesucht und gesucht«, sagte Carina und ballte ihre herabhängenden Hände zu
Fäusten.
»Ist etwas
nicht in Ordnung?« fragte Lady Wentwater neugierig. Ihre kleinen Rosinenaugen
wurden plötzlich verschlagen. »Warum mußt du denn meinen Neffen unbedingt
sehen?«
»Ich muß ihn
gar nicht unbedingt sehen«, sagte Carina und wurde rot. »Aber er hat gesagt,
daß er Sie in höchster Not habe schreien hören.«
»Das war
ich nicht. Such weiter!« sagte Ihre Ladyschaft obenhin. Und das tat Carina
auch.
Sie suchte
nicht nur den Garten ab, sondern auch das Gebäude. Aber von Guy Wentwater sah
sie nicht die geringste Spur.
Ihr Kummer
wurde noch dadurch verstärkt, daß beim Verlassen des Herrenhauses ein kalter
Nieselregen fiel.
Die Pächter
brachen eilends auf und nahmen so viel Essen mit, wie sie unauffällig tragen
konnten. Die feineren Gäste versammelten sich dagegen
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