Carina - sTdH 3
und was Minerva sagte, hatte Gewicht, und bevor man noch wußte,
wie einem geschah, hatte man lauter gute Eigenschaften, die man in Wirklichkeit
gar nicht besaß.
Minerva
hatte die Gabe, allen Leuten Rollen zu verpassen. Annabelle: schön und
dickköpfig; Carina: intelligent; Daphne: die Schönste der Familie, schüchtern
und modebewußt; Diana: die so wunderbar mit Tieren umgehen kann; Frederica:
anspruchsvoll und lustig, ein launisches kleines Ding.
Und doch
hatte Carina so sehr gewünscht, Minerva möge eingreifen und sie vor der Ehe
mit Lord Harry bewahren. Und Minerva hatte es getan, oder vielmehr, ihr Mann
hatte es getan.
Carina
mußte an ihren Vater denken. Er hatte offensichtlich sein äußerstes getan,
damit sie nur ja glücklich war, auch wenn das bedeutete, daß er einen reichen
Schwiegersohn verlor. Nun ja, sie verzieh ihm, aber viel hielt sie immer noch
nicht von ihm.
Und Guy
Wentwater? Was war mit Guy, der geduldig im schneebedeckten Green Park um zwei
Uhr morgens warten würde?
Laß ihn
warten, dachte Carina grimmig.
Ja, sie war
wirklich verrückt gewesen, als sie diese Verabredung traf. Warum sollte sie
auch nur einen Gedanken an einen Mann verschwenden, der sie hatte warten lassen
und sie dann vor seinen Freunden verspottet und gedemütigt hatte.
Und doch,
er hatte gesagt, daß er sie liebe.
Wie
seltsam, daß Lord Harry es fertiggebracht hatte, aus Guy die wahre Geschichte
herauszulocken, allerdings hatte Guy sich nicht zu seinem Rachemotiv an den
Armitages bekannt: Lord Harry hatte von ›Druck‹ gesprochen, aber sie
konnte sich nicht vorstellen, daß damit irgendeine Art physischer Gewalt
verbunden war. Er war ein viel zu eleganter und träger Mensch, um auf so etwas
zurückzugreifen.
Während
Carina so intensiv nachdachte, hatte sie gestanden, sich gesetzt und wieder
aufgestellt, so daß Betty sie anziehen und frisieren konnte.
»So!« sagte
Betty schließlich und schlug den Deckel von Minervas Schmuckschatulle zu. »Ich
habe Sie noch nie so hübsch gesehen. Wenn Sie geweint haben, Miss Carina, dann
sind Ihre Augen noch größer. Meine sehen dann ganz geschwollen und rot aus.«
Carina
stand auf, strich ihre Röcke glatt und würdigte ihr Spiegelbild kaum eines
Blickes.
Sie trug
ein enganliegendes, grasgrünes Seidenkleid, das mit einem Gazeüberwurf in
hellerem Grün bedeckt war. Eine Kette aus Smaragden und Mattgold lag um ihren
Hals. In ihrem aufgesteckten Haar war eine große goldene Seidenrose raffiniert
befestigt, deren sich kringelnde grüne Seidenblätter mit winzigen Smaragden
besetzt waren.
Das Mieder
ihres Kleides war mit Steifleinen gefüttert, so daß ihre Brüste darüber zwei
schwellende Hügelchen bildeten. An den Füßen trug sie niedliche grasgrüne
Slipper, und an ihren Ohren funkelten schwere Smaragdohrringe.
Betty, die
Carinas Haarfarbe zu kräftig fand, hatte ihre Haare pomadisiert, so daß sie
jetzt leuchtend dunkelrot waren.
»Sie sehen
aus wie eine Märchenfee«, lachte Betty und bewunderte Carinas schräge grüne Augen
und den zarten Körperbau. »Ich hole Ihnen den pelzgefütterten Mantel, es ist
nämlich höllisch kalt. Bloß gut, daß Sie die neue Unterhose angezogen haben.«
Carinas
Unterwäsche war der letzte Schrei: lange, hauteng gestrickte Wollunterhosen,
um ein Gegengewicht gegen die hauchdünne Oberbekleidung zu schaffen.
Die
Nacktheit des letzten Jahrzehnts kam allerdings allmählich aus der Mode, da die
Männer ihre Phantasie wieder etwas spielen lassen wollten. Aber am Abend waren
die Kleider immer noch fast durchsichtig, und manche Damen dämpften ihre
Musselinkleider auch noch, und der Effekt erregte alle möglichen lustvollen
Hoffnungen in den Herzen der Männer.
Oft hielten
die Männer die harten, sich abzeichnenden Brustwarzen für Zeichen heißer
Leidenschaft, in Wirklichkeit froren die Damen nur und hatten eine Gänsehaut.
Carina
wurde von Lord Sylvester zu Lady Godolphins Haus amHannover
Square gebracht, wo Lord Harry sie abholen sollte.
Voller
Ehrfurcht vor ihrem großen und schönen Schwager saß Carina sehr steif in der
Kutsche auf dem Weg zu Lady Godolphin.
»Du siehst
heute abend bezaubernd aus«, sagte Lord Sylvester und musterte die kleine
feenhafte Gestalt. »Ich bin froh, daß du nicht mehr so bleich bist. Lord Harry
hat mir gesagt, daß er eine Bekanntmachung an die Zeitungen geschickt hat, die
die Auflösung eurer Verlobung anzeigt.«
»Ja«, sagte
Carina tonlos. »Vielen Dank, Lord Sylvester, daß Sie sich für mich
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